In dieser Episode aus der surrealen Welt des 2. Teils geht es hauptsächlich um
Georg Büchner. Sie spielt um das Jahr 1800, und es ist ein nächtlicher Spaziergang des deutschen Dichters mit Jan, in dessen Verlauf die beiden streiten, zanken oder diskutieren. Sie ist ein Spiel einer wie schizophrenen Persönlichkeit, in dem beide Seite ihre Charaktere offenbaren, und es ist ein Gleichnis über die gesellschaftlichen Missstände, damals wie heute, sowie den Umgang damit. Ich habe in dieser Episode versucht, zu dem Wesen Georgs vorzudringen, es mit Worten, Zitaten, mit Symbolen oder Handlungen greifbar zu machen.
Die Wahl Büchners als Alter Ego des Hauptdarstellers hat vielerlei Gründe: Georg ist der einzige "klassische" deutsche Dichter, der mich in der Schulzeit wirklich interessiert hat. Nun gut, aus der "Moderne" kenne ich auch keinen, der mich interessiert. Georg jedoch ist außergewöhnlich für mich. In seinem Weltschmerz bei gleichzeitiger Suche nach dessen Überwindung habe ich schon früh eine Seelenverwandschaft mit mir entdeckt. Und seinen frühen Tod habe ich mit den frühen Toden der großen Rockstars wie z. B. meinem Idol
Duane Allman verglichen. Für mich bedeutet
Georg Büchner die Geburt des Rock'n'Roll, nur auf sprachlicher Ebene.
Für Jemanden, der noch nie von dem Dichter gehört hat, mag es nützlich sein, sich ein wenig über dessen Leben und Werk zu informieren. Diese Episode ist weniger an einem historischen Ereignis orientiert, sondern an gesellschaftlichen Verhältnissen, den beiden inneren Wesen und den Werdegängen der Protagonisten.
2. Teil ("Energie"), 4. Spiegel ("Das Neue"), Seiten 400 bis 409:
"... Georg muss sich beeilen, auf dass nicht noch mehr Blut vergossen wird. Er muss leben, wirken; schnell und effektiv.
Anfangs noch mit allen Mitteln, am besten auch durch Gewalt.
Dann, entledigt seiner jugendlichen Wut und als Reaktion auf den ‘gräßlichen Fatalismus der Geschichte’11), nur noch dichterisch den Wahnsinn der kommenden Moderne beschreibend.
Und schließlich, weise und somit schon ein ganzes Menschenleben umfassend, auf der wissenschaftlichen Suche nach einer Urharmonie, die das menschliche Wirken bloßstellt als einen Witz oder Wahn.
Und so treffen sich Anfang des neunzehnten Jahrhunderts zwei Wesen: Individuum und Kollektiv. Das der Liebe und das von deren Abwesenheit.
Das Universum gebärt einen Sohn - und tötet ihn dann wieder.
Die Moderne stirbt, bevor sie begonnen hat.
Als ein Bild im Bild gebärt sie sich selbst wie eine Totgeburt.
Als das von allem Entrückte.
Das sich selbst am nächsten, weil am weitesten davon entfernt.
Rock ‘n’ roll.
The white man’s blues.
„Siehst du nun, dass wir uns in einer verzwickten Lage befinden?“, fragt Georg, und ich bin wie immer wenig überrascht, ihn plötzlich an meiner Seite zu sehen. Ich vermisse Isaac und René, erinnere mich allerdings der Sprunghaftigkeit meines Daseins - vor allem auch meiner Träume.
„Ja“, antworte ich, und wir reichen uns die Hände.
„Und das ist auch kein Wunder. Schließlich bist du der Erste, der sich wirklich als Zwei erlebt hat. Noch vor der Entdeckung der Psychoanalyse -die das Wesen des Menschen mit der Entdeckung des Unterbewussten zweiteilt- hast du in dir alle Spielarten der geisteskranken Normalität empfunden bevor sie überhaupt beschrieben wurden. Und du bist somit natürlich auch der Erste, der seiner inneren Zerrissenheit eine Einheit wiedergeben will - eine Einheit, die sowohl den Einzelnen als auch die Gemeinschaft einschließt. Du bist der Prototyp des modernen Charakters, ohne zu wissen, was das heißt - weil es die Moderne noch gar nicht gibt.“
Georg grinst mich an wie ein Schelm. Er nickt.
So wie in seinen Träumen findet Georg auch und erst hier seine Einheit.
Hier ist er nicht mehr Zwei.
„Du hast Recht“, sagt er, und sein Atem kondensiert vor mir in der kalten Luft.
„Ich träume viel, und ich träume gern. Ich empfinde mich schon seit meiner Kindheit und aus der Tiefe meiner Träume heraus als etwas Besonderes. Und gleichsam als ein Nichts. Von manchen werde ich als ‘ungesellig oder hochmütig betrachtet’(12), doch letztlich ist es das genaue Gegenteil: ‘Ich verachte niemanden...’.(13) Ich empfinde ganz einfach nur so viel emphatische Nähe, dass ich nicht auch noch andauernd dabei lächeln könnte.“
„Ha“, grinse ich und bemerke ironisch:
„Mir scheint, wir sind uns ähnlich...“
Wir stehen auf einem Hügel inmitten von Natur. Im Dunkel einer kühlen, sternklaren Nacht. Anfangs noch möchte ich Georg fragen, warum er so lange verschwunden war. Doch es ist egal. Denn frische Luft bricht in mir den Kokon aus Einsamkeit.
„Es ist schön hier“, sage ich stattdessen.
„Ja“, antwortet Georg leise, und für einen Moment bleibt es still.
Über uns der bestirnte Himmel und in uns das moralische Gesetz.
Wir befinden uns in Mitteldeutschland, irgendwo im Südwesten. Vor uns in dunkler Weite wölbt sich das Land als ein Auf und Ab bewaldeter Kuppen und Täler, als gesprenkelt von beschaulichen Städtchen oder kartographiert von agrarökonomischem Nutzen. Wenige Seen, nordöstlich des Stroms, der Deutschland von Frankreich trennt.
Einzig vom Nachtlicht beschienen, rascheln Blätter und wiegen Bäume sich in die Düsterheit hinein. Hohe Gräser säumen einen Weg aus Sand und Schotter, auf welchem wir nebeneinander stehen, mein Alter Ego und ich. Es ist ein recht breiter Pfad, ausgetreten von Fuhrwerk, Karren, Füßen und Pferd. Jahrhunderte altes Menschengeläuf mit Rillen und Wellen, Beulen und Schwielen wie eine Arbeiterhand; schon Eckhart und seine Gedanken haben diesen Pfad begleitet. Vor uns führt es leicht abschüssig den Hügel hinab; wir spüren im Halbdunkel, wie Ross und Reiter hier Obacht geben müssen. Dann mutiert etwas weiter und im Dunkel auch der buckelige Weg zu einem Produkt der Phantasie.
Hinter dem hohen Gras zu beiden Seiten erhebt sich der sanfte, feucht-moosig riechende Wald und bleibt doch nur als finstere Kontur. Vereinzelt leuchten kleine Lichter in der Ferne und verschwimmen wie Sterne am Nachthimmel, wenn man sie fokussiert.
Ich sage:
„Es ist dunkel.“
Georg’s grau-grüne Augen glitzern im Spiegel des Firmaments.
Er erwidert:
„Eben noch schön, jetzt dunkel. Was willst du mir sagen?“
„Ich meine nicht die Natur. Die ist sowieso schön. Und manchmal Dunkel. Schön und dunkel. Und nicht nur das. Sie ist wunderbar. Ich rede von dem ersten Satz, den du zu mir gesagt hast.“
Dann grinse ich, und auch Georg freut sich. Für manche Menschen ist es schwer, jemanden zu treffen, mit dem man sich wirklich unterhalten kann.
Da muss man schon in den Spiegel schauen.
„Du meinst die Lage, in der wir uns befinden?“, fragt er, und ich mache den ersten Schritt.
„Ganz genau“, antworte ich, während es unter meinen wildledernen Halbschuhen knirscht als ich beginne, mich den Hügel hinab zu bewegen. Mit einer Geste der Selbstverliebtheit streiche ich mir durch mein kurzgeschorenes Haar. Es kribbelt angenehm.
„Denn diese Lage, die gesellschaftliche Situation sowohl zu deiner als auch zu meiner Zeit, ist eigentlich wie diese Landschaft, in der wir uns befinden: Sie führt in die Dunkelheit.“
Ich schaue nach unten, versuche, den Weg meiner Beine vorauszuahnen und folge langsam den Bodenrillen und Grasbüscheln.
Ich schwimme mehr als dass ich gehe. Wie immer.
„Wohl wahr“, kommentiert mich mein Alter Ego, und während er mir folgt, knistern auch seine Füße, die schwarz beschuhten, über das unebene Geläuf.
„Was ist mit den Lichtern dort hinten?“, fragt er neugierig nach einigen Sekunden.
Ich überlege, denke dann als erste Assoziation:
‘Georg sieht auch im Dunkeln noch ein Licht. Er kann nicht anders. Denn diese Welt ist illuminiert an sich und aus sich selbst heraus. Sie wird lediglich durch menschliches Zutun schlecht.’
Und um ihm meine Gedanken etwas plausibler zu machen, antworte ich auf seine Frage:
„Diese Lichter sind menschengemacht. Das ist gequirlte Scheiße!“
Dann rutschen wir weiter und stumm unseres Weges.
Doch kurz darauf wird es flacher und die Ebene weiter, offener, vom noch immer bestirnten Himmel, und ebenso vom Mond über und vom Mond in uns beschienen.
Ich weiß, dass das hier nicht nur mein Weg ist durch diese, die energetische und deshalb virtuelle Welt, sondern vor allem auch ein Ausdruck meines kommenden Weges durch die materielle, reale Welt. Ich werde diese Auseinandersetzung mit mir selbst und meiner Umwelt später noch brauchen, wenn ich tatsächlich so weit bin, mich auch dort meinen Ängsten stellen zu können.
Schließlich habe auch ich Angst vor dem Dunkel; doch als Ausgleich trage ich eine Unnachgiebigkeit in mir, die man nicht töten kann, weil sie energetischer Natur ist. Sie ist ein Gefühl.
Wir atmen.
Es riecht frisch und voll, leicht und satt, kribbelnd und matt; es riecht wie alles oder nichts.
„Wenn du glaubst, dass auch ich den menschlichen Weg als einen hinab in die Dunkelheit erkenne, dann sprichst du von der Zeit meines Exils, als ich den ‘Danton’ geschrieben habe“, kommentiert Georg meine längst vergangenen Worte. Und er kommentiert auch gleich meine Angst vor dem Dunkel, vor meiner eigenen Zukunft:
„Allerdings attestiert du mir in deinen Gedanken eine Hoffnung, die ich für mich selbst niemals so empfunden habe. Für mich ist persönliches Glück untrennbar verbunden mit dem gesellschaftlichen. Und auch ich sehe nicht in jedweder Finsternis noch ein kleines Licht. Ich habe weder in meinem noch dem gesellschaftlichen Weg etwas anderes erkennen können als den Tod.
Und übrigens: Die Reihenfolge meiner dichterischen Werke ist diesbezüglich natürlich auch nicht zufällig: Sie spiegelt den Werdegang, die Entwicklung meiner eigenen Gefühlswelt hinsichtlich meines Schaffens und Wirkens im Angesicht dieses Todes wider. Der Grund, warum ich vor dem ‘Danton’ den ‘Landbote(n)’ geschrieben habe, darüber im ‘Lenz’ fast verrückt geworden bin, schließlich bei ‘Leonce und Lena’ über den alles erfüllenden Wahnsinn nur noch lachen konnte, um letztlich dessen folgerichtige Konsequenz im ‘Woyzeck’ nur noch möglichst realistisch darzustellen, führt ja nicht nur dazu, dass die ganze Welt zugrunde geht, sondern eben auch ich zusammen mit ihr. Für mich hat sich in meinem Leben ein Traum erfüllt.
Form und Inhalt wurden dadurch Eins. Seit Kindesbeinen an träumte ich vom Tod. Und verstörenderweise war ich seit jeher fasziniert von den Auswüchsen der, wie du sie nennst, Moderne. Ich war schon immer so sehr eins mit der Umwelt und den Menschen, dass auch ich sterbe, wenn die Anderen sterben. Mein Tod ist der Beweis für die Totgeburt der Moderne.“
Für einen Moment halten wir inne, setzen unsere sorgsamen Schritte allerdings fort, nachdem ich zustimmend in Georgs Richtung nicke.
Mir wird mein Herz schwer.
Allerdings nicht allzu lang. Denn ich denke. Das hilft.
„Doch was sagt uns das?“, frage ich Georg und erhebe mich damit aus meinem Selbstmitleid.
Er schaut mich an. Wir bleiben stehen. Sekunden verrinnen, und die Nacht strahlt über uns, während der Weg nicht steiler wird.
„Dass in uns mehr ist, als das, was wir daraus machen“, antwortet er und fügt hinzu:
„Dass wir in dem illusionären Glauben leben, die Welt würde durch unser Zutun besser werden; dabei ist sie schon aus sich selbst heraus die beste aller möglichen. Es gibt kein Gut oder Böse. Wir sind die Einzigen, die diesen Unterschied machen.“
„Hallelujah!“, ironisiere ich seine Worte und mache in weiser Voraussicht einen schnellen Schritt vorwärts.
Georg jedoch springt mir hinterher und stößt mich an den Schultern, dass ich glaube, nicht weit vorn könnte vielleicht doch ein Abhang sein. Ich strauchle, falle aber nicht. Und als ich mich nicht wehre, dümmlich grinsend, verpasst mir mein Alter Ego noch einen Arschtritt.
Er lacht, und mein Hintern schmerzt. Die Bäume antworten mit rauschender Ignoranz.
„Wehr dich, du Idiot!“, keucht er. Auch Georg ist außer Atem von diesem kurzen Sprint. Dennoch hastet er noch einmal auf mich zu. Ein kleiner Scheinangriff. Seine Hand wischt an mir vorbei und holt einen kühlen Lufthauch aus dem Dunkel.
Doch auch diesmal weiche ich nicht aus. Ich spüre den Wind. Es ist schön hier.
Dann ich mache einen Schritt zurück und frage:
„Warum sollte ich mich wehren?“
Es dauert eine Weile:
„Weil ich dich schlagen will.“
„Du tust nur so.“
Georgs kleiner Mund öffnet sich ein wenig vor Erstaunen; dann schmunzelt er, grinst - und haut mir mit der flachen Hand direkt in die Fresse. Mein Kopf wird zurück geworfen, und die linke Wange brennt wie Feuer, Ich strauchle wieder zwischen sandigen Grasbüscheln und runden Steinen, bleibe aber trotzdem stehen.
„Und?“, frage ich.
Derweil glüht mein Gesicht.
„Ich hab dir wehgetan.“
„Ja. Aber ich kann damit umgehen. Ich habe es nicht nötig zu kämpfen. Kampf bedeutet, dass einer der an diesem Kampf Beteiligten verliert. Ich bin mutig genug, jedem Kampf mit Stolz aus dem Weg zu gehen. Ich möchte weder selbst verlieren, noch möchte ich, dass jemand anderer an meiner statt verliert. Ich möchte nicht gewinnen. Wie gehst du mit deinem Schmerz um?“
Wieder öffnet sich Georg’s kleiner Mund, und ich ergänze:
„Ich bin Jan. Ich bin ganz. Beziehungsweise, falls ich nicht ganz bin, neige ich dazu, mich wieder ganz zu machen. Leid ist für mich da, überwunden zu werden. Es entbehrt nicht der Realität. Für das zu kämpfen, was man will, ist eine Reaktion des eigenen geistigen Unvermögens auf Bedrohung. Ich habe es nicht nötig zu jammern!“
„Hallelujah!“, ironisiert nun Georg meine Worte. Und mit einer geschwungenen Armbewegung und einer angedeuteten Verbeugung signalisiert er mir gleichsam seine Achtung.
Doch für Sekundenbruchteile tut mir diese Geste noch mehr weh als sein Schlag ins Gesicht. Ich grinse noch einmal dümmlich und reibe an meiner Wange; mehr aus Verlegenheit als aus Genugtuung. Denn ich möchte nicht hofiert werden. Unterwürfigkeit trifft mich in meinem Stolz, der zu sein, der ich bin.
In mir ist ein unumstößliches Selbstbewusstsein, welches es weder nötig hat, über den Unbill des Lebens zu jammern noch von Anderen dafür den Kotau einzufordern.
„Ja“, kommentiere ich in dieser Mischung aus Kränkung und Lob.
„Jedem seine eigene Religion. Manche verehren Gott, manche verachten ihn, manchen ist er alles, manchen ist er nichts. Der Glaube ist eine Form der allertiefsten Bewusstheit, denn dort werden Gott und Ich zu Eins. Dort verwandelt sich das Entweder-Oder zu einem Sowohl-Als-Auch. Das ist meine Religion.“
Wir schwimmen noch einige Meter weiter den Geröllweg entlang, der nunmehr wieder sanft bergab führt. Neben uns greifen die dunkel bewaldeten Hügel nach dem Sternenhimmel. Und in der Ferne blinken noch immer die kleinen Lichter.
Georg hat nachgedacht:
„Du glaubst also, dass ich deshalb so wütend, so zynisch und so pragmatisch meinen Weg in so kurzer Zeit gehe, weil ich etwas, ein Bild, in mir trage, welches mir das Gegenteil des Fatalismus, ein Urvertrauen, vor Augen führt? Du glaubst, ich würde deshalb so erbost von unmoralischem Handeln sein und gleichsam aufgrund dessen der Menschlichkeit keine Zukunft mehr einräumen, weil in mir die Gewissheit einer besseren, einer möglichen Welt ist? Wie kommst du darauf?“
Eine kühle Böe weht den Hang hinab, aber sie ist nicht unangenehm. Ich denke:
‘Weil in jeder Kreisförmigkeit das Ende immer auch ein neuer Anfang ist. Die gesellschaftliche, gepaart mit der persönlichen Unmöglichkeit von Liebe gebärt einen neuen, anderen Versuch. Anderswo.’
„Nun ja, die Fische“, antworte ich ihm mit einem Hinweis auf sein reales Leben, und mein Atem kondensiert warm in der Nacht. Ich bin mir der christlichen Metapher bewusst.
„Du meinst diese kleinen, wundervollen Geschöpfe, die ich seziert und ihnen sogar selbst so etwas wie ein harmonisches, harmonisierendes Urbild zugesprochen habe; nämlich weil sich die Existenz einer solchen Urharmonie entwicklungsgeschichtlich und anhand körperlichen Wachstums vermuten lässt?“
„Im Grunde formulierst du dieses Urbild, welches ein universelles ist und sich als ein lebendiges selbst widerspiegelt, auch schon. Allerdings auf der Basis von Materie. Auf der Grundlage von Energie, also Gefühl, also Geist, bleibt dir weiterhin nur Eins: das Leid.“
Noch einmal bleiben wir stehen, und ich schaue Georg an. Mit dem leichten, vegetativen Zucken meiner Mundwinkel signalisiere ich ihm, dass ich Mitleid empfinde.
Und im Halbdunkel, kurz vor dem Abgrund seines Lebens, lächelt mein Begleiter; so wie er es auch im wirklichen Leben getan hat.
Dort, im Angesicht des Todes, ist er weich wie eine Konkubine und hart wie ein Despot.
Er ist wie Gott.
‘Meine Güte’, denke ich.
‘Und das in einer Zeit, die an alles glaubt, ausser an die eigenen moralischen Gesetze.’
Georg spricht:
„Die Natur ist groß und reich, nicht weil sie in jedem Augenblick willkürlich neue Organe für neue Vorrichtungen schafft, sondern weil sie die höchsten und reinsten Formen nach dem einfachsten Plane vollbringt.“14)
„Genau“, bestätige ich ihn. Und füge hinzu:
„Darum geht es: die Verschmelzung von Inhalt und Form.
Lebendigkeit. Die komplexesten Muster und Erscheinungen, Variationen und Skurrilitäten, bewerkstelligt mithilfe der einfachsten Art und Weise; Zwei in Einem. Und zwar grundsätzlich, obschon gegensätzlich.“
Wir sind in einer Senke angelangt, die den Duft von feuchtem Moos und ebensolchen Nadelbäumen verströmt. Über uns funkeln weiter und bedingungslos die Sterne. Einige Meter vor uns, soweit die Augen eben reichen, zeichnen sich Konturen ab. Ein schmaler Durchgang zwischen den Bäumen am tiefsten Punkt dieses kleinen Tals.
„Doch warum?“, frage ich ihn, und Georg spricht erneut:
„Die Natur handelt nicht nach Zwecken, sie reibt sich nicht in einer unendlichen Reihe von Zwecken auf, von denen der eine den anderen bedingt; sondern sie ist in allen ihren Äußerungen sich selbst genug. Alles, was ist, ist um seiner selbst willen da.“15)
Ich kommentiere:
„Die Verschmelzung von Was und Wie produziert schließlich etwas Neues, Anderes, weil alles auf einer bestimmten, argumentatorischen Ebene eigentlich Eins ist. Dieses Eine hat es nicht nötig, zweckgebunden zu handeln; es ist sich selbst genug. Schließlich ist es als eine zweigestaltige Einheit auch aus sich selbst heraus entstanden. Ansonsten müsste Gott noch einen Schöpfer haben.“
Dann fordere ich mein Alter Ego ein weiteres Mal:
„Und daraus folgt...?“
Er antwortet:
„Diese Frage, die uns auf allen Punkten anredet, kann ihre Antwort nur in einem Grundgesetze für die gesamte Organisation finden, und so wird für die philosophische Methode das ganze körperliche Dasein des Individuums nicht zu seiner eigenen Erhaltung aufgebracht, sondern es wird die Manifestation eines Urgesetzes, eines Gesetzes der Schönheit, das nach den einfachsten Rissen und Linien die höchsten und reinsten Formen hervorbringt. Alles, Form und Stoff, ist für sie an Gesetze gebunden. Alle Funktionen sind Wirkungen desselben.“16)
„Siehst du“, sage ich. Und ich meine damit natürlich auch mich selbst, wenn ich Georg -der tiefsten Tiefe meines eigenen Wesens- erzähle, was er so alles weiß, ohne zu wissen, was er über mich weiß:
„Einmal abgesehen von meinen Kommentaren steckt in deinen Worten schon alles, wonach du auf der Suche bist: Du stellst die These auf, dass die Natur ihre Komplexität nicht nur ganz einfachen, sondern vielmehr den einfachsten Wirkweisen verdankt; und behauptest danach, dass dies alles zwecklos geschieht, also zum Beispiel ohne die Gründe, die wir anführen, wenn wir in den Krieg ziehen wollen. Dann kombinierst du beides, indem du das Erstgenannte, Einfachste zu einem Gesetz erhebst, es als Dynamik beziehungsweise Leben von seinem Zweck löst und durch Wiederholung gleichsam evident machst. Dies ist ein sich selbst beweisender zweigestaltiger Kreisschluss, denn die Vielfalt erkennst du als Einheit, erklärst sie aus sich selbst heraus, und somit muss aus der Einheit Vielfalt entstehen. Erst so machst du die Kausalkette ganz. Das Gesetz, von dem du sprichst, ist in dem verborgen, was du sagst.“
Georg schweigt. Er weiß. Ich weiß.
Nun wissen wir beide.
Hier in der feuchten Senke ist es fast windstill. Einige Meter den Weg entlang befindet sich tatsächlich ein Durchgang zwischen den hohen, schwarzen Bäumen; eine kleine Holzbrücke. Sie scheint über einen kleinen Bergbach zu führen, denn in der nächtlichen Ruhe hören wir sanft und stetig das Wasser rauschen.
Auf der anderen Seite glitzern noch immer die einsamen Lichter wie die Spiegel ebensolcher Sonnen. Sie wirken im Dunkel fast störend, denn sie sind menschengemacht.
Dennoch. Die Brücke ist wie der Weg aus dem Dreieck. Und auch der ist menschengemacht. Wir leben in einer Scheiße, die wir uns selbst eingebrockt haben, und folglich müssen wir uns den Weg hinaus auch selbst erdenken.
Nur wenn man die Brücke überquert, kann man sehen, was auf der anderen Seite ist. Nur wenn man das Dreieck von außen betrachtet, kann man schlussfolgern, dass zwei rechte Winkel zu dreien führen, die eben dieses Dreieck bilden. Nur wenn man aus den Gewissheiten seines eigenen Daseins hinaustritt, kann man erkennen, in welch kompletter Illusion man lebt.
Die Moderne -und mit ihr sowohl ihr erster Protagonist, Georg, als auch ich, ihr letzter- lebt in dem Glauben, aus dem Dreieck hinaus getreten zu sein, ohne dadurch eine geistige Leistung vollbringen zu müssen. Kraft unseres Stolzes haben wir uns alle transzendiert, ohne zu wissen, wie man das schreibt.
Mit einem Mal kommt mir Immanuel in den Sinn. Er ist derjenige, der aus seinem eigenen Dreieck hinaus getreten ist. Und nicht nur das. Als folgerichtige Konsequenz dieser Geisteswende hat er sogar das komplett beschrieben, was noch gar nicht ist: die Moderne.
So wird die Wahrhaftigkeit zur Zukunft.
„Komm“, ermuntere ich Georg.
„Wir machen uns jetzt auf den Weg zu einem Bekannten von mir, der sich damit beschäftigt, was es bedeutet, wenn man sich selbst als den Besitzer göttlicher Gesetze empfindet und diese nur dadurch erklären kann, dass man sie lebt.“
Wie einen Windhauch spüre ich Georgs Ablehnung.
„Oh, nö; nicht den alten Knacker!“, mault er.
„Doch!“, insistiere ich so knüppelhart wie der Mörser, mit dem Immanuel immer seinen Senf stößt.
Georg schüttelt den Kopf. Und stimmt dennoch zu:
„Na gut. Ich kann ja eh nicht anders.“ Er gibt sich geschlagen.
„Ich bin ja hier deinen Träumen und somit deinen Leidenschaften ausgeliefert. Warte erst mal ab, bis du dich in meinen Phantasien wiederfindest...“
Er grinst diabolisch, doch sein weicher Schnurrbart und die glänzenden Augen lassen ihn nur wie einen kleinen Zauberlehrling erscheinen.
„Das dauert noch“, gebe ich ihm zu verstehen.
Und füge hinzu:
„Bis dahin habe ich dir schon mindestens dreimal in den Arsch getreten!“
Ich schiebe mit einem kurzen Ausfallschritt das linke Bein vor und suche Stand im sandigen Schotter. Georg zuckt, und sein Rock flattert.
Kiesel klacken, knistern, rauschen.
Dann trete ich ihm mit voller Wucht in den Hintern, so dass mir der Spann schmerzt. Er schreit auf und geht zu Boden. Doch auch ich rutsche weg im unruhigen Geläuf und falle unsanft auf den linken Ellenbogen.
Kiesel klacken, knistern, rauschen. Ich stöhne dumpf.
„Arschloch“, grunzen wir beide gleichzeitig.
Nach dieser brutalen Geste unserer Verliebtheit stehen wir stöhnend auf, grinsen und klopfen uns den Dreck von der Kleidung.
Vor uns schläft noch immer die Brücke im schummrigen Sternenlicht.
„Ich dachte, du kämpfst nicht“, bemerkt Georg, leise röchelnd.
„Tue ich auch nicht“, sage ich. Auch mir fehlt der Atem.
„Ich habe dich belehrt.“
Georg schaut mich fragend an und hält sich die rechte Arschbacke. Seine leicht gekrümmte Haltung verrät Schmerz.
„Ich habe dir gezeigt, was es heißt zu kämpfen. Das heißt nämlich ganz einfach, dass jemand kommt und dir in den Arsch tritt. Und zwar genau dann, wenn du glaubst, gerade unter Freunden zu sein.“
Ich grinse jetzt nicht mehr, und auch Georg steht wieder aufrecht neben mir auf dem Schotterweg; nur einige Schritte bis zur Brücke, bis zur Transzendenz.
Er blickt mich an mit glänzenden, grau-grünen Augen. Er weiß.
Und ich werde laut:
„Ich frage mich, ob überhaupt noch jemand Respekt vor den Menschen hat, die im Krieg sterben und leiden. Der Tot ist eine Worthülse. Ein Spiel. Ich frage mich, was diese Menschen eigentlich glauben, wenn sie sagen, sie wollen für den Frieden kämpfen. Welcher Kampf soll das Unheil, was geschehen ist, wieder gut machen? Wen bin ich bereit, in den Abgrund zu schicken, nur um Recht zu behalten und mich stark zu fühlen? Welche Demokratie will ich mit meinem oder dem Tod Anderer erkaufen? Oder glaube ich tatsächlich, mit meinem Tod, oder auch nur mit meiner Wut, etwas zu verändern? Ist diese Macht, jemandem das Leben zu nehmen besser als gar keine? Wie viele kleine Kinder will ich noch allein zurücklassen, nachdem ich ihnen die Eltern genommen, Arme und Beine abgerissen und dann einen Strauß Blumen ins Krankenhaus geschickt habe? Lehrt mich denn die Vergangenheit gar nichts? Kampf bedeutet Krieg. Und Krieg bedeutet Blut, Schmerz, Tod, Leid, Ungerechtigkeit, Lüge, Hass, Verbitterung, Trauer. Eine Gesellschaft, die glaubt, man müsse für das kämpfen, was man will, ist in höchstem Maße geisteskrank!“
Georg lacht, und wir klatschen uns ab.
Er ergänzt meine Tirade:
„Ja, Frieden ist nicht so etwas wie ein Zweck, dem ich mein Handeln unterordne; und schon gar nicht ist Krieg ein Mittel, um Frieden zu schaffen. Ganz grundsätzlich ist sogar Widerstand eine Form des Kampfes. Dadurch könnte ich nämlich unfriedlich handeln, es aber mit dem Frieden begründen. Frieden ist ein tieferer Sinn, der hinter dem steckt, was ich tue; Frieden ist das Gesetz, nach dem ich mein Handeln ausrichte. Und zwar in dem Sinne, dass ich sage: Entweder ist mein Handeln friedlich und gleichzeitig kommt bei dem, was ich tue, Frieden heraus - oder ich lasse es bleiben. Gegen etwas zu sein, widerspricht universellen Gesetzen, denn auch im Universum hat alles seinen Raum und seine Zeit. Frieden ist immer sowohl Zweck als auch Mittel zu diesem Zweck. Es ist wie bei den Fischen.“
Georg schaut mich zufrieden an, und nun grinse auch ich wieder. Ich sage:
„Genau. Jetzt können wir gehen.“..."
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