Im zweiten Teil ("Energie") werden die Episoden nun etwas länger, denn sie beschäftigen sich intensiv mit philosophischen Themen. Jan reist durch seine innere geistige Welt, durch die tiefsten Tiefen des menschlichen Unterbewusstseins, und er trifft dort verschiedene Personen aus der Zeitgeschichte. In diesem Fall sind dies
Wilhelm von Ockham und
Meister Eckhart, die Geschichte spielt um das Jahr 1200 herum, und es entwickelt sich ein Gespräch über Sprache, Realität und Vorstellung, über Glaube und über die Armut im Geiste.
Die Episoden der zweiten Geschichte des zweiten Teils ("Energie") sind allesamt an historische Ereignisse oder Begebenheiten angelehnt. Hier habe ich mir vorgestellt, wie es Wilhelm von Ockham wohl ergangen sein mag, als er im Streit um die Armut Jesu bei König Ludwig Unterschlupf fand. Daran angelehnt auch die Diskussion mit Meister Eckhart um dieses Thema. Ich habe den Wohnort Ockhams ins Soutterain gelegt als Symbol für das menschliche Unterbewusste und versucht, aus dem Werken und auch aus den Charakteren dieser Menschen eine eigene Interpretation zu derivieren. Die Zahlen hinter einigen Sätzen benennen Originalzitate. Auf Angabe und Verweis habe ich hier verzichtet.
2. Teil ("Energie"), 1. Spiegel ("Veränderung"), Seiten 276 bis 292:
"... Doch plötzlich stehe ich inmitten einer kleinen Ansammlung schäbiger Holzhütten. Der kleine Park, der sich zuvor als Spiegelbild meines eigenen Geistes und auch als Spiegelbild eines kollektiven Unterbewusstseins zu einem großen Wald, zu einer natürlichen Unendlichkeit gewandelt hat, liegt hinter mir. Und auch meine Begleiter, Georg und Eckhart, sind verschwunden. Stattdessen stehen hier kleine Menschengruppen in lumpigen Kleidern herum, manchmal nur grauen Fetzen und palavern oder verrichten allerlei Dinge. Alte Frauen schmeißen Müll zwischen die Bäume, zwei schwitzende Männer ziehen eine abgemagerte, braune Kuh über die zerfurchte Erde, und einige dreckige Kinder spielen lauthals fangen. Ich starre sie an, doch keiner beachtet mich. Nicht weit entfernt öffnet sich die Landschaft zu einem weiten Feld, auf dem sich Gräser und Nutzpflanzen im sanften Wind wiegen. Ein schmaler Bach durchstreift die grüne Idylle, und noch etwas weiter stehen die Hütten schon dichter gedrängt um den massiven, steinernen Bau einer gotischen Kirche versammelt. Aus der Ferne betrachtet wirken die Holzbaracken nahe des Gotteshauses wie schwarze Blutegel, die sich in das rote Fleisch eines Opfertieres gesaugt haben. Oder, im umgekehrten Sinne: Die Kirche wirkt wie ein fetter, blutroter Käfer, der sich in einen schwarzen Insektenhaufen gesetzt hat, um ihm die Lebensenergie zu rauben.
Noch einmal schaue ich mich um, denn ich vermisse Georg. Eigentlich wollten wir ja hier in dieser Welt eine gemeinsame Reise unternehmen, doch ich bin viel zu fasziniert von der Fülle dieses geistigen Universums, um mich zu sorgen.
Also mache ich mich auf den Weg.
Um das steinerne Gotteshaus herum herrscht reges Treiben. Menschen reden, lachen, jammern; Hunde huschen winselnd und mit eingezogenem Schwanz um Häuserecken, und Kinder puhlen kleine Steinchen aus dem Dreck, um sie neugierig zwischen ihren kleinen, dreckigen Fingern zu drehen - denn Kinder wissen, dass sich in jeder Erbärmlichkeit doch noch irgendwo eine wundervolle Perle finden lässt. Ich stehe beeindruckt, aber auch mit leichtem Abscheu vor der hoch aufragenden, hier im Schmutz wie außerirdisch wirkenden Kirche.
‘Diese Macht’, so denke ich, ‘ist etwas, was ich in meinem eigenen Leben niemals wirklich über mich selbst besessen habe. Kein Wunder also, dass nicht nur ich ihr mit zwiespältigen Gefühlen begegne, sondern dass diesem Ausdruck eines widersprüchlichen Glaubens im Mittelalter mit der Wissenschaft auch ein kompletter Gegenentwurf geliefert wurde.’
Für einen Augenblick überlege ich, die Kirche zu betreten; doch dann drehe ich mich um und blicke direkt auf ein anderes, als einziges ebenso gemauertes Gebäude. Es ist zweistöckig und von simpler Gestalt, gefertigt aus unverputzten, grauen Klinkern und mit nur wenigen, tief eingelassenen Fenstern wie dunkle, hungrige Münder. Über einer halb geöffneten, schweren Holztür hängt erneut das Wagenrad mit dem Bierglas als stilisierter Nabe. Ich grinse, als dieses Symbol für leibliches und vor allen Dingen geistiges Wohl mir ein weiteres Mal erscheint. Für einen winzigen Moment assoziiere ich, dass es deshalb Symbole gibt, weil einem als Ganzem lebendigen Universum Grundstrukturen innewohnen, die in allem und jedem wieder zu finden sind, so dass überhaupt erst dadurch Verbindungen geknüpft werden können, die nicht zwangsläufig dem einfachen kausalen Zusammenhang von Ursache und Wirkung gehorchen.
Doch dann gleitet mir ein leichtes Schaudern über den Rücken, denn als ich näher trete und mir dumpfe, gutturale Laute bewusstlosen Rausches, aber auch Gerüche von Scheiße, Kotze, süßem Bier und Urin entgegenschlagen, wird mir klar, dass diese Allem innewohne Grundstruktur nicht immer auch positiv interpretiert werden muss. Ich wende mich ab, sehe dann jedoch an der Seite der Schänke eine schmale Treppe, die hinab in einen Keller führt. Kein Geländer ziert oder schützt das Loch in der Erde, und nur einige sandige Stufen geht es hinab.
‘Hier also’, denke ich, ‘unter den wahnwitzigsten Auswüchsen des Missverständnis einer sich selbst bewusst werdenden Menschheit, liegt verborgen dessen Neuinterpretation durch einen wissenschaftlichen Ansatz.’
So wie es meine Art ist, schwimme ich ein wenig ungelenk die krummen, sandigen Stufen hinunter, und noch bevor ich die kleine Holztür an deren Ende erreicht habe, höre ich eine freundliche Stimme laut rufen:
“Kommen Sie herein, mein Freund. Die Tür ist offen.”
Ich erschrecke für den Bruchteil einer Sekunde, trete dann aber ein. Ein herber Geruch von offenem Feuer, klammer Kleidung und hartnäckigem Männerschweiß schlägt mir entgegen, und es öffnet sich ein rechteckiger Raum mit kahlen, unverputzten Wänden, dessen schmieriges Grau nur stellenweise durchschimmert hinter allerlei Holzregalen, einzelnen, mit kunstvollen Intarsien verzierten Wandvertäfelungen oder einfach nur einer Unzahl von Bücherbergen, Papierstapeln oder riesigen Haufen von Pergamentrollen. Die Schriftstücke wirken allesamt schwer und überdimensioniert; ich sehe detaillierte Atlanten des Jupiter oder gleich des ganzen Sonnensystems. In der Mitte des Raumes thront ein großer, massiver und dunkler Schreibtisch, auf dem ein hölzernes Dreieck steht, welches als Buchstütze fungiert. Dahinter steht lächelnd ein hochgewachsener, aber schmaler Mönch in brauner Kutte. Er trägt einen tintengetränkten Federkiel in der Hand.
“Schließen Sie die Tür! Es wird kalt”, sagt er und weist freundlich zu einem hölzernen Schemel, auf welchem ein Stapel ledergebundener Bücher liegt. Als er mein Verwundern bemerkt, murmelt der Mönch eine unverständliche Entschuldigung, tritt hinter seinem Schreibtisch hervor und hebt den Stapel hoch, um ihn auf einem weiteren, an einer der rauhen Wände gelehnten Haufen zu platzieren.
Ich setze mich und schaue umher. Auf der dem Eingang gegenüberliegenden Seite und hinter dem Rücken des Franziskaners lodert in einem kleinen, gemauerten Viereck ein Feuer, dessen Rauch über einen metallenen Kamin ins Freie zieht. Daneben liegt ein großer Berg halbfeuchten Spaltholzes, dem süßlicher Geruch entströmt. Neben einem schmalen, dunklen Bett in der linken Ecke des Raumes steht ein winziger Nachtschrank mit einer Kerze, mehreren kleinen Gläsern und einer tönernen Karaffe darauf.
“Man sollte sich auf das Wesentliche beschränken”, sagt mein Gastgeber lapidar, als er meine erneute Verwunderung über diese spartanische Behausung bemerkt. Ich lächle und nicke. Der Hocker, auf dem ich sitze, knarrt. Dann fügt er hinzu:
“Was führt Sie zu mir, mein Freund?”
Für einen Moment bin ich überrascht, denn natürlich weiß ich, bei wem ich mich hier befinde; was ich aber hier will, war mir zuvor noch so ganz klar.
“Ich bin auf der Suche nach Worten. Worte für das, was sich eigentlich nicht beschreiben lässt.”
Nun ist es an Wilhelm -so heißt der Franziskanermönch-, mir einen Blick der Überraschung zuzuwerfen. Dann jedoch sagt er:
“Auf der Suche sind wir wohl alle. Und das mit Worten zu beschreiben, was wir suchen, ist wohl eines der größten Probleme daran, denn die Begriffe, die wir dafür finden, scheinen immer zu wenig zu sein für das, was wir sagen oder hören wollen. Und zudem haben diese Begriffe sich schon zu meiner Zeit immer mehr von dem entfernt, was damit gesagt werden sollte. Sie waren schon damals mehr nur Ausdruck eines inneren Bildes, welches man sich von ihnen machte. Sie schufen eher eine Verwirrung der Bedeutungen und führten so zu mehr Missverständnissen als Klarheit.”
Der Mönch wirkt groß und drahtig, trotz des weiten, braunen Mantels, den er lässig trägt, als wäre er gerade auf dem Weg in die Sauna. Seinen kahlen Schädel ziert eine Tonsur, ein dunkelbrauner, der Dornenkrone Jesu nachempfundener Haarkranz, und seine gleichsam braunen Augen haften an mir wie Magnete. Er geht hinüber zum Nachtschrank, greift sich ein Glas und die Karaffe.
“Wasser?”, fragt er.
Gern”, antworte ich und möchte wissen:
“Mir geht es mit der Sprache wohl so ähnlich. Doch wie kann es sein, dass wir Alle glauben, Worte hätte eine konkrete Bedeutung und jeder würde verstanden werden, wenn er nur bestimmte Worte benutzt? Denn unausgesprochen und eine quasi zwischen den Zeilen stehende Bedeutung nutzend, gebrauchen wir alle unsere Worte, indem wir ihnen weit mehr als die gemeinsame Übereinkunft eines konkreten, unveränderlichen Sinnes attestieren. Und wenn man sich näher mit diesem Thema beschäftigt, findet man heraus, dass diese unterschwellige Bedeutung lediglich das ist, was der Einzelne in sie hineindenkt beziehungsweise was er gerne als die Bedeutung des jeweiligen Wortes hätte. Warum verkommt das vermeintlich Konkrete in den Worten mehr und mehr zu interpretatorischen Angelegenheit?”
“Eine gute Frage.” Wilhelm stellt das Glas vor mir auf die Vorderseite des gewaltigen Schreibtischs und schenkt ein.
“Sie war wohl immer eine meiner zentralen Fragestellungen, und ich habe in meinen Analysen auch versucht, darauf eine Antwort zu geben.”
“Inwiefern?” Ich nehme einen Schluck von dem Wasser. Es ist frisch und kalt.
“Nun, Ursprung aller meiner Überlegungen war wohl die Tatsache, dass ich in einer Zeit der Missverhältnisse gelebt habe. Nicht nur auf sprachlicher Ebene. Ganz grundsätzlich stand damals alles zu etwas anderem in einem direkten Missverhältnis: Die vielgepriesene Güte Gottes zum unsäglichen Leiden der Menschen, die Fülle und der Segen der Natur zu den vielfältigsten Krankheiten, die sie hervorbrachte, der Wunsch nach Liebe und Frieden zum andauernden Krieg, die Stärke des Glaubens zur gleichzeitigen, ebensolchen Stärke der Ungläubigen und noch so Vieles mehr; doch schließlich das, was mich zu allererst mit der Kurie in Konflikt gebracht hat: Der Reichtum der Kirche zur Armut Christi und der Menschen; vielleicht sogar zur moralischen Rechtfertigung von weltlichem Reichtum oder institutionalisierten Glauben im allgemeinen. Der selbstgefällige Reichtum der Kurie wurde in meiner Zeit zu einem Prüfstein, ob in dieser Welt die Worte Jesu eigentlich noch wirklich verstanden wurden, denn hier lag wohl das größte aller Missverhältnisse verborgen: Was hatte Jesus gesagt, beziehungsweise was hat er eigentlich damit gemeint? Selbst die Kirche war darin gespalten; schließlich gab es zu meiner Zeit immerhin zwei, manchmal sogar drei Päpste.”
Auch Wilhelm trinkt nun etwas Wasser. Dann setzt er sich auf einen Schemel, der hinter seinem Schreibtisch steht. Er sagt:
“Und um es noch einmal zu verdeutlichen: Ich lebte in einer Zeit, in der die Päpste sich selbst als die direkten Nachfahren Christi und somit ihre Macht als von Gott unumstößlich legitimiert sahen, die weltlichen Herrscher ihren Besitz als heilig betrachteten und beide Seiten ihr eigenes Weltbild sozusagen als den Höhepunkt menschlicher Kultur empfanden. Jede kritische Reflexion dieser scheinbar von allem Glauben und Wissen gestützten Gewissheit wurde bestraft.”
“Eine gewisse Arroganz scheint mir leider fast allen Mächtigen eigen zu sein”, kommentiere ich in leicht ironischen Ton und mit Gedanken an mein eigenes Zeitalter.
Dann frage ich den Mönch:
“Sie begründen also die Probleme ihrer damaligen Zeit mit grundsätzlichen Widersprüchen, die zwischen dem bestanden, was gesagt, getan oder auch gepredigt wurde und dem, was offensichtlich für alle als Realität erkennbar war?”
“So könnte man es sagen; aber das wäre zu einfach. Widersprüche gibt es immer, herauszufinden, was oder ob Realität ist, gehört zu den schwierigsten Dingen überhaupt, und -nebenbei bemerkt- in den seltensten Fällen tut ein Mensch wirklich das, was er sagt. Schon gar nicht diejenigen, die glauben, sie wären im Recht. Mein Ansatzpunkt war insofern immer ein sprachlicher - natürlich neben meinem Versuch der Wiederbelebung zum Beispiel des pragmatischen, aristotelischen Gedankenguts im Gegensatz zur Ideenwelt eines Platon. Auch mich störte der Verlust konkreter Wortbedeutungen. Und ich wollte den Ausdruck der tiefsten Motivationen erforschen, die den menschlichen Aussagen und Handlungen zugrunde liegen. Die Sprache ist nun einmal einer der wesentlichen Ausdrucksformen unser seelischen Befindlichkeiten. Dort sah ich einen Ansatzpunkt.”
Er nimmt noch einen Schluck Wasser, und ich hake nach:
“Sie wollten also so etwas wie den Urgrund der Seele beschreiben?”
“Nun ja”, relativiert Wilhelm erneut.
“Das will eigentlich jeder der großen -und wohl auch kleinen- Philosophen; der Wissenschaftler, Forscher, der Prediger und Priester. Die wahre Urmotivation eines jeden Menschen auf dieser Welt besteht darin, aus einer fragmentarischen Welt eine Einheit zu schaffen, beziehungsweise -andersherum gedacht- die Welt zu fragmentieren, um zu ihrer Allverbindung vorzustoßen.
Und für mich als einen Forscher oder Philosoph, dessen wichtigstes Handwerkszeug die Sprache ist, besteht natürlich die größtmögliche Notwendigkeit, eben genau das zu analysieren, dessen ich mich am meisten bediene und mit dem ich in Kontakt zur Außenwelt trete. Eben die Sprache. Dort sah ich für mich persönlich die größte Möglichkeit, einen Zugang zum Wesen der Welt oder eben dem Urgrund der Seele zu gelangen.”
“Und was sind die Ergebnisse Ihrer Arbeit?” frage ich mein Gegenüber ohne weitere Umschweife.
Für einen Moment schaut Wilhelm mich etwas unschlüssig an, so als müsste er zuerst selbst formulieren, was er nun würde sagen wollen. Er steht wieder auf und geht einige Schritte hin und her zwischen Schreibtisch und Kamin; bis er spricht:
“In wenigen Sätzen ist das kaum zu erklären. Vereinfacht gesagt ging es mir damals darum, auf den Punkt zu kommen.”
Erneut pausiert er und nimmt einen Schluck Wasser aus seinem trüben, mit kleinen Bläschen durchsetzten Glas, und ich grinse, denn ich erinnere mich für Sekundenbruchteile sowohl an die Trübheit meines eigenen Lebens als auch daran, dass es mir ebenso immer darum ging, das Eine, das Allumfassende zu finden.
“Ich lebte -wie gesagt- in einer Welt der Widersprüche und der daraus resultierenden Verwirrung. Kirche und Staat begannen, sich zu trennen, und jede der beiden Parteien war darauf aus, möglichst viel Macht und vor allem Recht im Sinne von Rechthaben in sich zu vereinen, ohne den anderen zu sehr vor den Kopf zu stoßen beziehungsweise ohne den universellen Machtanspruch eines allgütigen Gottes in Frage zu stellen.
Die Existenz Gottes jedoch war für mich weder beweisbar noch widerlegbar, denn sie lässt sich mit Sprache hinterfragen. Die Existenz Gottes war und ist also eine Frage des Glaubens, und so stellte sich für mich ein solch verwirrendes Problem von Widersprüchen hauptsächlich als ein Problem von Begrifflichkeiten dar. Wir alle benutzen Begriffe, Worte, als wäre das, was sie bezeichnen, real. Dies ist jedoch nur zum Teil der Fall, wie Sie wohl selbst schon ahnen. Aufgrund der unterschiedlichen Bedeutungen und Interpretationen, aufgrund kulturgeschichtlicher Verschiedenheiten dieser von uns benutzten Begriffe, ergibt sich, dass diese nicht die Realität an sich bezeichnen, sondern mehr das innere Bild, welches wir von ihr haben beziehungsweise welches von ihnen in uns tradiert ist. So gesehen ist Ihre Vorstellung, Herr Jan, Worte hätten einzig eine konkrete Bedeutung, und jeder Mensch würde eigentlich und im Grunde wissen, was damit gemeint ist, ein Trugschluss. Sie ist nur eine Seite der Medaille und hier wohl eher Wunschdenken.
Doch was ist nun aber diese Realität, wenn wir in dem Moment, in dem wir von ihr sprechen, nur mehr das meinen, was wir von ihr halten?”
Er lächelt milde, und unter seinem haarigen Rosenkranz kräuseln sich einige Stirnfalten. Ich denke an meine erste brauchbare Kurzgeschichte, bleibe jedoch stumm und trinke Wasser.
“Nun, ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass das, was wir als Realität bezeichnen, nicht die Worte sind, die wir dafür finden. Vielmehr verweisen unsere Worte lediglich auf die Realität; sie sind Zeichen einer Realität, die zwar existiert, aber nicht so, wie wir sie uns in unserem Geiste vorstellen. Wir benutzen Worte als geistige Zeichen, die etwas benennen, was als Realität sogar ursprünglich nur ausserhalb unseres Geistes existierte und auch noch immer tut. Wir glauben, dass das, wovon wir reden, das ist, was mir in unserem Geiste damit meinen. Jene Urform einer Realität, von der ich jedoch reden möchte und welche uns dazu befähigt, jedes Wort überall auf der Welt mit einer konkreten Bedeutung zu versehen, existiert nur außerhalb unseres Geistes, sozusagen extramental. Aus meiner Sicht sind einzig die Dinge an sich real, sie existieren für sich selbst auch ohne uns. Und selbst die grundlegensten, einfachsten Worte wie zum Beispiel Mensch oder Zahl sind Verweise darauf, also Zeichen. Die Worte und Begriffe, die wir umgangssprachlich und gemeinhin als Um- oder Beschreibung gebrauchen, sind lediglich Verweise, also Zeichen von oder auf diese Zeichen. Ein bildhaftes Beispiel meinerseits, ein Vergleich, war dieses Wagenrad, welches draussen an der Wand hängt und uns sagt, dass es hier im Haus Bier zu trinken gibt, ohne dass das Wort Bier verwendet wird. Es ist ebenso ein Zeichen auf ein Zeichen; nur eben bildhaft statt sprachlich. Und dieses Bild, welches uns eine mögliche Durstlöschung -oder Suchtbefriedigung- suggeriert, entsteht in unserem Geist. Die Tatsache jedoch, dass es überhaupt entsteht, jenes Phänomen der scheinbar kausalslosen Intuition -also die Fähigkeit, Dinge miteinander in Beziehung zu setzen- diese Fähigkeit ist naturgegeben und somit extramental.
Diese auf Logik beruhende Folgerung beschreibt einerseits die Komplexität der Wirklichkeit, indem sie als zweischichtige Spiegelbildlichkeit gedacht werden kann. Andererseits ist sie eine Form der Reduzierung auf das Wesentliche; sie hat den Sinn, die zu meiner damaligen Zeit herrschende Verwirrung aufzulösen, welche ich darin begründet sah, dass man die Dinge unnötigerweise verkomplizierte, ihnen Wesenheiten zusprach, die sie gar nicht besaßen.”
Er trinkt einen Schluck, geht weiter auf und ab in seinem dunstigen Raum. Ich überlege eine Weile und frage den Mönch, wohl eher rhetorisch:
“Ihr berühmtes Skalpell?”
“Ja, so wird es wohl genannt.” Er grinst mich an mit einem fast schmerzhaften, mitleidigen Blick. Dann fügt er hinzu:
“Aber eigentlich ist auch das ein Missverständnis. Die Tatsache, dass man die Dinge nicht so sehr verkomplizieren sollte, wird heutzutage als so etwas wie ein Naturgesetz verstanden, welches suggeriert, dass der einfachste Weg auch der beste sei und alles dementsprechend auch nur auf eine oder zumindest eine wesentliche Ursache zurückgeführt werden könne. Ich selbst jedoch habe damit nur meine logische Herangehensweise an grundsätzliche Problematiken gemeint und so zu verhindern gesucht, dass man eben solche Fragen nicht unnötig verkomplizieren, sondern zu allererst versuchen sollte, das Wesen des Problems zu ermitteln. Wie gesagt: Die Gesamtheit zu fragmentieren, ist nur eine scheinbare Lösung; zu einer wirklichen Lösung kommt es erst, wenn man die einzelnen Fragmente, beziehungsweise die Antworten, die man dort gefunden hat, wieder zu einer neuen, anderen Gesamtheit zusammenfügt.”
Für einen Moment lausche ich dem Knistern des brennenden Holzes, rieche seinen feuchten Dampf und noch immer auch den alten Männerschweiß. Als wären diese sinnlichen Eindrücke der einzige Kern, das Wesen dieses Raumes, fällt mir Eckhart ein, der mich bei meinem letzten Besuch in dieser Welt ermutigt hat, mir durch meine Nüchternheit sozusagen selbst Wesen zu geben; auch wenn dieses Wesen hin und wieder mal den Rausch enthält.
“Und genau darum, sehr verehrter Jan, ging es mir in Wirklichkeit”, unterbricht Wilhelm meine Gedanken, und ich benötige ein oder zwei Sekunden, um zu realisieren, dass er von dieser neuen, anderen Gesamtheit spricht.
“Denn es ging mir -im ontologischen Sinne- um eben dieses Wesen. Was ist das Wesen einer von uns immer zitierten Realität, die wir konkret benennen können; aber nur, um sie daraufhin verschiedenartig zu interpretieren?”
Er schaut mich fragend an, doch ich nippe nur an meinem Wasser und grinse für mich selbst, denn ich bemerke, wie mich meine Intuition -trotz Verwirrung- zielsicher auf den weiteren Fortgang unserer Diskussion geleitet hat.
Das Wesen der Dinge.
Meine eigenen Gedanken bewegen sich jedoch noch weiter nur im Hintergrund, und ich genieße es, die Worte des Franziskaners auf mich wirken zu lassen, ohne mich selbst in das Gespräch einbringen zu müssen.
Derweil fährt der Mönch fort:
“Ich für meinen Teil habe versucht, mich diesem Wesen zu nähern aber dennoch mich von dem zu befreien, was an der gesamten Problematik lediglich glaubhaft, aber nicht beweisbar ist: nämlich dem Glauben.”
Er grinst, und seine klaren braunen Augen fixieren mich als wollten sie mich photographieren. Ich bleibe dennoch weiter stumm, und Wilhelm scheint mein Schweigen als Skepsis zu interpretieren; er sagt:
“Dies soll allerdings nicht bedeuten, dass ich den Glauben in Frage stelle. Ganz im Gegenteil. Als Verweis auf die Realität, sozusagen die Materie an sich, spreche ich dem Glauben eine ebensolche Existenz zu wie ich es -und danach ist, so denke ich, diese gesamte Problemstellung benannt worden- den Universalien ebenso zuspreche. Der Glaube an zum Beispiel einen Schöpfergott ist, ebenso wie unser logisches Denkvermögen, unsere kausale Abstraktion, aber auch wie die Klassiker Mensch oder Zahl eine Universalie. Damit wurden schon in der Antike Dinge benannt, von denen seit jeher unschlüssig war, ob sie als Eigenständigkeiten, Entitäten eine sozusagen ontologische Existenz, eben Realität, besitzen oder ob sie lediglich gedachten, geistigen Charakter hätten. Meine Lösung dieses Problems war insofern eine zweischichtige, genauso wie auch das Problem ein zweigestaltiges war: Es sind nur die Dinge, die Materie an sich real; die Universalien allerdings sind direkte Verweise darauf und besitzen somit eine zwar andersartige, jedoch gleichzeitig auch eine ebensolche Realität.”
Wilhelm setzt sich wieder, schaut mich an als würde er eine Antwort oder mindestens einen Kommentar von mir erwarten. Als das immer noch ausbleibt, fügt er hinzu:
“Und als jemand, der an das glaubt, was er sieht und an das, was seine Logik und sein Verstand daraus schlussfolgern, als sogenannter Nominalist, habe ich versucht, meine Ausführungen zu ökonomisieren und sie auf das Wesentliche zu beschränken, ohne jedoch die Komplexität der Wirklichkeit zu vernachlässigen. Aus der soeben angedeuteten Definition von Universalien hat sich für mich ergeben, dass sie zwar real sind, aber niemals als komplett eigenständig und starr existieren können. Ich habe somit den Universalien ihre Realität zugeschrieben, indem ich sie als Verweise auf die Realität in Fom einer Qualität der Seele gedacht habe.”
Der große, drahtige Mönch blickt mich erneut an und wartet. Einige Sekunden vergehen, während derer die Worte des Franziskaners in meinen Ohren klingen und ich versuche, sie einzuordnen in mein eigenes Weltbild. Völlig neu und völlig anders erscheint die assoziative Kombination dieser Worte. Denn das, was Wilhelm soeben sagte, klingt mir aus meinen vielen philosophischen Lektüren bekannt, entwickelt nun jedoch eine viel umfassendere Bedeutung.
“Wesen? Seele?”, murmele ich vor mich hin. Dann klopft es plötzlich hölzern an der Tür, und wir zucken beide unwillkürlich zusammen, als uns das Geräusch so unvermittelt aus den Gedanken holt.
“Treten Sie ein, Bruder”, spricht mein Gegenüber und schreitet in seiner braunen Kutte an mir vorbei zur Tür. Ich drehe mich um auf meinem kleinen Schemel und erhebe mich, denn ich ahne, wer uns nun einen Besuch abstatten will. Ein frischer Windhauch schlägt uns entgegen, dann steht Eckhart vor uns.
“Guten Tag, meine Herren.” Er lächelt mit rosigen Wangen, trägt seinen weißen Mantel mit dem schwarzen Überwurf, über den locker seine lederne Tasche geschwungen ist. Wieder sind seine wenigen Haare nach vorn gekämmt und liegen platt auf seinem Schädel.
Wilhelm breitet seine Arme aus und bittet den Dominikaner herein.
“Wie schön, Sie hier zu sehen”, sagt er. Dann weist er dem anderen Mönch einen weiteren Hocker zu, indem er zuerst einen großen Stapel Schriftstücke davon hochhebt und diese dann einfach auf den Boden daneben fallen lässt.
“Ich habe gerade versucht, meinem jungen Besucher aus der anderen Welt ein wenig von dem zu vermitteln, was ich gelehrt habe, als auch ich noch dort weilte. Setzen Sie sich, denn ich denke, wir könnten hier ein fruchtbares Gespräch führen.”
Nun lächeln beide. Eckhart setzt sich neben mich und nickt mir zu als Zeichen dafür, dass wir uns zuvor schon einmal gesehen hatten. Er legt seine Tasche auf den Boden und sagt:
“Nun ja, verzeihen Sie, dass ich mich nicht angemeldet habe, aber als ich bemerkte, dass hier von der Seele gesprochen wurde, dachte ich mir, dass nun der richtige Zeitpunkt sei, mich an der Diskussion zu beteiligen.”
Wie auch beim letzten Mal scheint Eckhart durch seine zurückhaltende Art sehr darauf bedacht, sich nur dann zu Wort zu melden, wenn seine gesellschaftliche Stellung oder sein Wissen von der Welt ihn dazu auch wirklich befähigen. Ich erinnere mich an meine eigene Schulzeit, in der ich oft nur gesprochen habe, wenn ich genau wusste, wovon.
Beziehungsweise wenn ich dazu vom Lehrer mehr oder weniger gezwungen wurde.
“In der Tat habe ich den Ausdruck Seele benutzt”, sagt Wilhelm und setzt sich wieder hinter seinen gewaltigen Schreibtisch.
“Und in der Tat ist es wohl lohnend, sich über dieses kleine Wörtchen seine Gedanken zu machen”, ergänzt er.
„Im Rahmen meiner Forschungen habe ich so einige Menschen vor den Kopf gestoßen allein dadurch, dass ich das, was für allgemein gültig gehalten wurde, in Frage gestellt habe. So etwas wie das Vorhandensein einer Seele oder auch einen wie auch immer gearteten Gott und den Glauben daran habe ich jedoch nie negiert. Allerdings haben mir genau diejenigen, die eben gerade nicht glauben, mir ein solches Heidentum -oder eine, wie in Ihrem Fall, Eckhart, Häresie- vorgeworfen. Die Seele war für mich immer etwas Unergründbares, Immaterielles, in uns allen Verborgenes, welches als Urgrund alle geistigen Leistungen wie zum Beispiel Wille und Verstand zu Folge hat. Dennoch oder gerade deshalb ist sie vorhanden, zumindest als ein Potential des Glaubens. Diejenigen, die -dadurch, dass ich Religion anders interpretiere als es die christliche Kirche tut- mir vorwerfen, ich würde nicht an die Seele oder Gott glauben, tun dies in Wirklichkeit selbst nicht, weil sich dieser Schmach gewahr zu werden sie zu sehr schmerzen würde.”
“Das sehe ich ähnlich, sehr verehrter Wilhelm”, spricht nun Eckhart, der Dominikaner. Er nimmt einen Schluck Wasser, welches der Franziskaner in der Zwischenzeit vor ihm platziert hat.
“Auch ich bin mittlerweile davon überzeugt, dass jene, die mir eine etwaige Gotteslästerung vorgeworfen haben, in Wahrheit diejenigen sind, die an Gott nicht um seiner selbst willen glauben, sondern dies vielmehr tun, um hier in der materiellen Welt einen Vorteil für sich selbst zu erzielen oder eben um sich ihrer eigenen Fehlerhaftigkeit nicht bewusst werden zu müssen. Und in Anbetracht meiner Überlegungen hinsichtlich dessen, was Gott oder auch der Glaube an ihn, wirklich bedeuten, bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass Gott nicht der Nutzen ist, den man aus seinem Vorhandensein zieht; vielmehr sollte man Gott um seiner selbst lieben, denn Er will auch keinen Nutzen. Er ist Nutzen an sich; ebenso wie unser Denken in seinem Urgrund, der Seele, Nutzen ist. Gott zeigt sich uns in seiner immateriellen Natur, und unser Denken ist ein Spiegelbild davon. Gott hat nicht nur uns geschaffen; Gott hat alle Dinge erschaffen.”
Und nach einem kurzen Atemzug:
“Nicht, dass Er die Dinge werden ließ und dann seines Weges ging, sondern: Er ist in ihnen geblieben.2)”
Eckhart trinkt noch einen Schluck Wasser. Er stellt das Glas wieder auf den Tisch vor ihm und sagt:
“So, das nur zur Vorrede.”
Dann fragt er wie aus dem Nichts heraus:
“Kein Wein?”
Ich muss grinsen über diese wie hingeworfene Frage, denn für mich selbst bedeutet Alkohol im wesentlichen Sucht. Trinken ist für mich mit Problemen verbunden und auch immer eine Form von Luxus. Für den kleinen, drahtigen Mönch jedoch, der -so glaube ich- Armut immer als eine Tugend betrachtet hat, scheint das nicht der Fall zu sein.
“Wozu?” fragt Wilhelm, und in seinen Augen sehe ich einen kleinen, zornigen Funken; so als würde Eckhart dadurch, dass er gerne Wein trinkt, sich mit den Insignien des weltlichen Reichtums schmücken wollen. Mir scheint, als wären die beiden trotz ihrer Freundlichkeit und Zugehörigkeit zu Bettelorden oftmals unterschiedlicher Meinung.
“Weils schmeckt”, sagt der Dominikaner lapidar und lächelt.
“Und dadurch, dass es mir gefällt, so gefällt es auch Gott.”
Und als ich mit einer Mischung aus Unverständnis und Neid zwischen den Mönchen hin und her blicke, fügt Eckhart hinzu:
“Lieber Jan, es kommt auf die tiefe innere Motivation an, mit der man die Dinge tut. Sie ahnen es doch selbst, dass es hier um das Wesen der Welt und somit auch der Menschen geht; nicht darum, wie diese Menschen ihr eigenes Wesen gerne hätten. In diesem Fall stimme ich vielleicht mit meinem Bruder Wilhelm überein, auch wenn wir zwei verschiedenen Orden angehören.”
Er schaut über den Schreibtisch hinweg, und der Franziskaner nickt. Dann fährt Eckhart fort:
“Ich bin mir durchaus im Klaren, dass die Zeit, in der Sie leben, Jan, für das, wovon ich rede, vollkommen andere Worte findet und diese auch in einen scheinbar anderen Kontext einbindet. Die Urgründe allen Seins sind jedoch seit jeher die gleichen und werden es auch immer bleiben. Sowohl die Unterschiede als auch die Gemeinsamkeiten zwischen verschiedenartigen Interpretationen zu formulieren, ist doch auch einer der Gründe, warum wir uns hier befinden. Bevor Sie uns allerdings diesbezüglich einiges an Auskunft geben können, lassen mich noch einmal einige Worte verlieren zu meinem Verständnis von Armut, denn ich glaube, dass wir dadurch einen kleinen Eindruck gewinnen könnten von den inneren Motivationen, die man für Dinge hat, die man tut.”
Ich nicke, doch Wilhelm am Schreibtisch uns gegenüber zuckt lediglich mit den Schultern. Er scheint eine andere Auffassung bezüglich Armut oder gar Lebensführung zu haben, lässt Eckhart jedoch gewähren.
“Nun gibt es zweierlei Armut”, fährt dieser fort.
“Die eine ist eine äußere Armut, die ist gut und sehr zu loben an dem Menschen, der sie mit Willen auf sich nimmt aus Liebe zu unserem Herrn Jesus Christus, weil er sie selbst auf Erden gehabt hat.3)”
"Sehr wohl!”, unterbricht Wilhelm plötzlich laut und hebt sein Wasserglas, so als wolle er uns zuprosten.
“Von dieser Armut will ich jedoch nicht weiter sprechen.4)“, setzt Eckhart noch einmal an, ohne jedoch Wilhelm zu beachten.
Dieser runzelt derweilen die Stirn, zuckt erneut mit seinen Schultern und schweigt.
“Indessen, es gibt noch eine andere Armut, eine innere Armut, die unter jenem Wort unseres Herrn zu verstehen ist, wenn er sagt: ‘Selig sind die Armen im Geiste’. Was ist denn Armut in sich selbst und was ein armer Mensch?
Das ist ein armer Mensch, der nichts will und nichts weiß und nichts hat. Von diesen drei Punkten will ich sprechen, und ich bitte euch, dass ihr diese Wahrheit versteht, wenn ihr könnt. Versteht ihr sie aber nicht, so bekümmert euch deswegen nicht, denn ich will von so gearteter Wahrheit sprechen, wie sie nur wenige gute Leute verstehen werden.5)“
Der Dominikaner macht eine kleine Pause, spricht dann mit einem milden Lächeln:
“Wobei ich allerdings davon ausgehe, dass Sie beide, meine Herren, sehr wohl in der Lage sind, mich zu verstehen.”
Dann nickt er uns zu und möchte erneut beginnen, doch Wilhelm unterbricht ihn:
“Wir bewegen uns auf der Ebene des Glaubens.”
Der Franziskaner in seiner braunen Kutte faltet seine Hände und blickt verträumt in die Höhe, um uns damit mitzuteilen, dass er -genauso wie Eckhart- auch an Gott glaubt. Jedoch spricht Wilhelm mit einem leicht abfälligen Unterton und zeigt so, dass wir uns hier in Bereichen befinden, die weder beweis- noch widerlegbar sind. Fast schon verächtlich sagt er:
“Gott hätte ebenso gut die Natur eines Esels annehmen können anstelle der eines Menschen.”
Doch Eckhart entgegnet ihm:
“Eben genau darum geht es! Denn in Wahrheit tut er eben gerade auch das! Es geht um die tiefere Dimension des Glaubens. Beziehungsweise um das, was Glauben wirklich bedeutet.”
Der kleine Dominikaner lächelt noch immer, und mit einem Mal spüre ich das, was Eckhart uns mitteilen will, beziehungsweise worauf er vielleicht mit dem hinaus will, was er wohlmöglich als nächstes sagen wird: Es geht ihm um den unterbewussten Glauben daran, dass etwas Glaube, das Andere Wissen sei. Es geht nicht um den Glauben; es geht um den Glauben an den Glauben - oder eben um den Glauben an das Wissen. Es geht um zwei ganz grundsätzlich unterschiedliche Formen von Welt- und Selbstverständnis, um zwei diametrale Wahrnehmungs- und Erkenntnisebenen. Ansonsten wären die beiden Mönche mit eigentlich der gleichen Intention nicht dennoch verschiedener Meinung.
“Sehr wohl gedacht”, stimmt Eckhart mir zu, während ich mich wenig wundere, dass jemand wieder einmal meine Gedanken lesen kann.
“Doch lassen Sie mich fortfahren.” Eckhart nimmt den Faden wieder auf.
“Zum Ersten sagte ich, dass der ein armer Mensch sei, der nichts will. Diesen Sinn verstehen manche Leute nicht richtig: Es sind jene Leute, die in Bußübung und äußerlicher Übung an ihrem selbstischen Ich festhalten - was diese Leute jedoch für groß erachten. Diese Leute sind heilig aufgrund des äußeren Anscheins, aber von innen sind sie Esel, denn sie erfassen nicht den eigentlichen Sinn göttlicher Wahrheit. Gott möge ihnen in seiner Barmherzigkeit das Himmelreich schenken. Ich aber sage bei der göttlichen Wahrheit, dass diese Menschen keine wirklich armen Menschen sind noch armen Menschen ähnlich. Ich sage, dass sie Esel sind, die nichts von göttlicher Wahrheit verstehen. Wegen ihrer guten Absicht mögen sie das Himmelreich erlangen; aber von der Armut, von der ich jetzt sprechen will, davon wissen sie nichts.6)“
“Verehrter Bruder Eckhart!” Wilhelm springt plötzlich auf, und auf seinem fast kahlen Schädel funkelt Zornesröte.
“Ihr wollt doch nicht wirklich behaupten, ich wäre ein solcher Esel durch die Buße, die ich tue?!”
Hinter dem Schreibtisch fuchtelt er wild mit seinen durch die braune Kutte verhüllten Armen. Fast hätte er sein Wasserglas vom Tisch gefegt. Ich bleibe sitzen und bin gespannt; jedoch auch verwundert, wie schnell es geht, Probleme der Außenwelt in sich selbst zu spiegeln, wenn dieses eigene Selbst sich unterbewusst als problembeladen empfindet.
“Mitnichten, mein Bruder”, versucht Eckhart, den aufgebrachten Franziskaner zu beruhigen.
“Ich meinte weder Euch und schon gar nicht unseren verehrten Besucher, Herrn Jan.”
Der Dominikaner schaut zuerst mich an, steht dann auf und hebt seine Hände zur Abwehr.
“Es geht mir um die Verdeutlichung eines inneren Verständnis’. Ich bin ein großer Bewunderer Ihrer Arbeit und Ihnen in tiefer Hochachtung verbunden. So wie wir alle, sind auch Sie ein Sohn Gottes.”
Er spricht betont leise und lächelt wieder dabei. Ich stehe nun ebenfalls auf und mache einen kleinen, fast unmerklichen Schritt nach vorn - wohl eher unwillkürlich, um nicht nur gedanklich, sondern auch räumlich mit den beiden auf einer Ebene zu bleiben.
“Meine Herren”, mische ich mich nun ein.
“Es besteht nicht der geringste Grund für etwaige Auseinandersetzungen. Wir reden hier von ein und derselben Sache; sozusagen von dem Einen und Ganzen, von Gott. Sehr verehrter Wilhelm, Sie haben doch selbst von einer zweigestaltigen Wirklichkeit geredet, wenn ich mich recht erinnere. Somit mögen unsere Interpretationen von dieser Wirklichkeit verschieden sein. Doch nur dort -in unseren Interpretationen- ist Gott dann nicht mehr derselbe. Dort wandelt er sich zuerst zum Gleichen - und dann zum Anderen.”
Die Mönche schauen mich an, und ich füge hinzu:
“Zu meiner Zeit; einer Zeit, in der gar niemand mehr etwas versteht, aber alle glauben, sie wüssten Bescheid - dort wird sogar Gott zum Fremden! Also setzen wir uns!”
Ich befolge meine eigene Anweisung, und die beiden Mönche tun es mir gleich. Dann herrscht eine Weile Ruhe, die nur von unseren Atemgeräuschen und dem Knistern des Holzes im lodernden Kamin begleitet wird. Keiner möchte ein erneutes Aufbrausen des Gesprächs. Also frage ich schließlich:
“Nun, Eckhart, was ist ein armer Mensch?”
Er zögert für einen kurzen Moment, spricht dann aber:
“Wenn einer mich nun fragte, was denn aber das sei: ein armer Mensch, der nichts will, so antworte ich darauf und sage so: Solange der Mensch dies noch an sich hat, dass es sein Wille ist, den allerliebsten Gott erfüllen zu wollen, so hat ein solcher Mensch nicht die Armut, von der wir sprechen wollen; denn dieser Mensch hat noch einen Willen, mit dem er dem Willen Gottes genügen will, und das ist nicht rechte Armut. Denn, soll der Mensch wahrhaft Armut haben, so muss er seines geschaffenen Willens so ledig sein, wie er’s war, als er noch nicht war. Solange Ihr den Willen habt, den Willen Gottes zu erfüllen, und Verlangen habt nach der Ewigkeit und nach Gott, solange seid Ihr nicht richtig arm.7)“
Dann greift er nach seinem Wasserglas, und wir trinken alle einen Schluck. Die Worte des Dominikaners klingen in mir anfangs fremd und unverständlich, doch da auch ich mittlerweile ein zumindest quasi-religiöses Weltbild mein Eigen nennen kann, betrachte ich Diskussionen auf einer solchen, sozusagen Meta-Ebene nicht mehr als Humbug, sondern eher als Ausdruck von Grundsätzlichkeiten, die auch in der wissenschaftlich-logischen Erfahrungsebene verborgen liegen. Ich muss dies hinterfragen, um meine eigenen Worte dafür zu finden:
“Sie meinen also, um einer wirklichen Armut zu genügen -um also eine Armut zu leben, wie sie auch Jesus gelebt hat- darf man diese Armut nicht mehr nur allein auf ihren weltlichen, also materiellen Ausdruck reduzieren? Die wahre Armut liege demnach dort, wo auch Gott verborgen ist -natürlich überall, aber im Rahmen von möglichem Erkenntnisgewiss vor allem im eigenen Inneren? Schließlich -und davon sprachen wir bei unserem letzten Zusammentreffen- ist der Ursprung der Trinität Gottes der Vater, also seine immaterielle, sozusagen energetische Erscheinungsform? So müsse man sich also, neben den weltlichen, vor allem auch von geistigen Dingen, dem Wollen und Wünschen trennen, um Seine Dreifaltigkeit tatsächlich erleben zu können und damit zu den Urgründen, zum Wesen der Armut vorzudringen? Um Gott nicht nur erklären zu wollen, sondern Ihn -und damit auch Jesus- wirklich verstehen zu können, müsse man in sich selbst schauen und sich von allem lösen, was man dort an etwaiger innerer Motivation findet?”
Während Wilhelm stumm bleibt und etwas unschlüssig mit seinen Blättern hantiert, die auf dem großen Schreibtisch liegen, überdenke ich meine Worte. Eckhart kommentiert:
“So ist es. Ebenso wie der Vater, also die energetische Seite des Universums, Ursprung des Sohnes ist, welcher Sie selbst und wir alle sind - ebenso ist der Gedanke Ursprung nicht nur dessen Realisierung, sondern sogar unserer weltlichen Existenz an sich.”
Und mit einem wissenden Blick hinüber zu Wilhelm fügt er hinzu:
“In dieser Form der Spiegelbildlichkeit ist ein logischer Zusammenhang verborgen. Und nicht nur das. Es ist sogar der Ursprung aller Logik!”
Wilhelm schaut auf von seinen Blättern und legt sie wieder beiseite. Auch er lächelt nun wieder und sagt:
“Ich glaube, ich beginne zu verstehen, was Sie meinen. Wenn Logik und Gott in kausaler Weise miteinander verknüpft sind, dann könnte meine Wut über Ihre Worte hauptsächlich und ursprünglich in mir selbst verborgen sein, weil das für mich persönlich jener Ort ist, in dem Gott und seine vermeintliche Logik am stärksten wirken, aber auch im Widerspruch zu meiner eigenen Logik stehen. Verzeihen Sie bitte, denn ich habe wohl den Fehler gemacht, meine eigene Widersprüchlichkeit in Ihre Worte zu projizieren. Fahren Sie fort.”
“Nun, Ihre Entschuldigung klingt anfangs etwas ironisch, ist aber wohl gerechtfertigt, denn sie ist sozusagen der psychologische Aspekt oder Ausdruck dieser Gott -oder, wie Sie sagen würden, Jan, dem Universum- immanenten Logik. Ich danke Ihnen für Ihren Edelmut, Wilhelm. Diese Beschreibung ist eine Form der Kausalität, welche uns, so hoffe ich, unser Freund Jan gleich etwas näherbringen wird. Lassen Sie mich jedoch zum Abschluss meine Absichten noch einmal kurz verdeutlichen.”
Wir alle trinken einen Schluck Wasser, und ich werde leicht nervös. Dennoch lässt mich diese Angespanntheit in eine wohlig-warme Aufmerksamkeit sinken, so als würden sich in diesem Moment Konzentration und Hingabe zu einem Moment des Lebendigen verbinden.
“Als ich noch in meiner ersten Ursache stand, da hatte ich keinen Gott, und da war ich Ursache meiner selbst.8)”
“Ihr meint den Moment Ihrer Geburt?”, unterbricht Wilhelm ihn - wohl auch, um damit den abstrakten Begriff einer ersten Ursache auf eine weltliche, konkrete Ebene zu hieven. Eckhart nickt nur, ohne eine längere Pause zu machen.
“Ich wollte nichts, ich begehrte nichts, denn ich war ein lediges Sein und ein Erkenner meiner selbst im Genuss der Wahrheit. Da wollte ich mich selbst und wollte nichts sonst; was ich wollte, das war ich, und was ich war, das wollte ich, und hier stand ich Gottes und aller Dinge ledig. Als ich aber aus freiem Willensentschluss ausging und mein geschaffenes Sein empfing, da hatte ich einen Gott; denn ehe die Kreaturen waren, war Gott noch nicht Gott: Er war vielmehr, was er war. Als die Kreaturen wurden und sie ihr geschaffenes Sein empfingen, da war Gott nicht in sich selber Gott, sondern in den Kreaturen war Er Gott.9)“
Eckhart wischt sich einige kleine Schweißperlen von der Stirn und streicht seine wenigen, dunklen Haare wieder nach vorn. Er lächelt und schweigt. Ich bemerke:
“Nun, unsere Problematik scheint mir zweierlei Natur zu sein. So wie das Wesen aller Dinge an sich.”
Dann rücke ich meinen Hocker zurecht, um mich selbst darin zu bestätigen, dass ich bequem sitze. Es will mir nicht wirklich gelingen; also schaue ich meine Begleiter an, um vielleicht ein wenig Bestätigung zu erhaschen. Doch auch das ist kaum von Erfolg gekrönt, denn Eckhart mustert mich lediglich erwartungsvoll und greift dann in seine Ledertasche, um ein einzelnes Schriftstück daraus hervorzuziehen und dieses scheinbar aufmerksam zu studieren. Der Dominikaner hat offensichtlich das gesagt, was er sagen wollte. Auch Wilhelm beschäftigt sich im Folgenden mit scheinbar Belanglosem: Er steht auf, entzündet eine Kerze und legt etwas Holz ins Feuer. Ich senke daraufhin meinen Blick, damit ich mich auf mein eigenes Ich konzentrieren kann.
“Wenn ich Sie recht verstanden habe, meine Herren”, beginne ich.
“Dann haben Sie in den vergangenen Minuten beide versucht, mir ein wenig von Ihren jeweiligen Weltbildern zu vermitteln; und zwar dahingehend, dass wir uns diesbezüglich mit im wesentlichen metaphysischen Fragestellungen, beziehungsweise der Beantwortung solcher Fragen, beschäftigt haben. Auch ich denke in solchen Kategorien. Oder zumindest habe ich im Verlauf meines bisherigen Lebens erkannt, dass dies genau jene Ebene der Erkenntnis ist, auf der mir die Zeit, in der ich lebe, niemals Antworten hat liefern können, obwohl ich schon immer auf der Suche danach war. Mittlerweile bin ich sogar zu der Überzeugung gelangt, dass im Grunde ein jeder Mensch sich solche, als metaphysisch bezeichnete Fragen stellt, ohne sich dessen zwangsläufig bewusst zu sein. Doch sie sind integraler Teil des Lebens an sich. Einige dieser Fragen lauten:
Warum existiert das Universum, und wie ist es entstanden?
Gibt es einen Gott, und wenn ja, wie ist er beschaffen?
Wer bin ich, warum bin ich so, wie ich bin, und welche Stellung besitze ich im Universum?
Was ist der Unterschied zwischen Geist und Materie?
Gibt es eine unsterbliche Seele?
Was bedeutet eigentlich Leben?
Natürlich existieren noch mehr solcher Fragen, doch leider ist ihre Beantwortung seit einiger Zeit mehr oder weniger verpönt. Mindestens jedoch ist sie mit einem Anstrich der Sinnlosigkeit versehen, welcher vor allem von Ihnen, Wilhelm, in unserem Gespräch zum Ausdruck gebracht wurde. Oder diese Sinnlosigkeit ist einer wissenschaftlichen Quasi-Beantwortung gewichen, die das Eine in linear-kausaler Weise auf das Andere bezieht und somit nie zum Ende kommt. Daraus folgt, dass die Protagonisten jener Zeit, in der ich lebe, glauben, sie wüssten.
Sie glauben, sie wüssten, dass es einen wesenhaften Unterschied zwischen Glauben und Wissen gebe - wobei der Glaube an zum Beispiel einen Schöpfergott das ist, was jedem in seiner ureigenen Art freigestellt und Wissen jener Bereich der menschlichen Wahrnehmung bezüglich seiner Evidenz als kollektive Gemeinsamkeit unzweifelhaft sei.“
Eckhart nickt mir zu, und auch Wilhelms Blick widmet mir seine Aufmerksamkeit. Während der Franziskaner uns allen aus seiner tönernen Karaffe nachschenkt, sage ich:
“Bevor ich allerdings hier einen kurzen, aber eigenen Entwurf zur Beantwortung einiger metaphysischer Fragen wage, möchte ich noch einiges von dem reflektieren, was zuvor von Ihnen beiden angesprochen wurde.”
Wir trinken, und langsam bemerke ich, dass es mir gefällt, mich selbst reden zu hören. Obwohl es in meinen dunkelsten Stunden wohl genau das war, was ich nicht mehr ertragen konnte, weil ich mich immer wieder in Sinnlosigkeiten verstrickte.
Ich fahre also fort:
“Zuerst einmal möchte ich von Ihnen reden, Eckhart, denn Sie haben versucht, mir die Tiefe eines religiösen Glaubens zu verdeutlichen, der mitnichten spekulativ oder sogar grundlos ist. Bei unserem ersten Treffen sprachen Sie wenig; aber sie sprachen von den grundsätzlichen dynamischen Zusammenhängen, die das Universum und die darin enthaltenen Entitäten -unter anderem uns- miteinander interagieren lassen. Auf eine solche Weise könnte man dieses Universum als in seiner Gesamtheit lebendig begreifen, das Leben an sich als einen Ausdruck davon, und die Gesamtheit seiner raum-zeitlichen Ausdehnung in Wechselwirkung mit dessen Gegenteil -der Raum- und Zeitlosigkeit- als Person; namentlich Gott.
Bei unserem zweiten Treffen -hier und jetzt in Wilhelms Studierzimmer- lag Ihr Augenmerk darauf, uns zu zeigen, wie und auf welche Weise man sich selbst in die Lage versetzen könnte, diese dynamische Gesamtheit zu verstehen. Und zwar, indem man versucht, zu dem Wesen der Dinge dadurch vorzustoßen, dass man sich auf der Erkenntnisebene von den weltlichen Dingen, vor allem aber auch von allen geistigen Begehrlichkeiten löst, sich in den Zustand eines kompletten Nichtseins versetzt, um genau dort das zu finden, wonach man sucht. Somit lernt man, Gott -oder das Universum- als zweigestaltig zu begreifen. Ich würde dieses Konzept als dynamische Spiegelbildlichkeit bezeichnen wollen, die sich daraus ergibt, dass die äußere Form einerseits definitionsgemäß einen alles umfassenden Rahmen bildet, aufgrund ihrer Lebendigkeit sich aber auch in allem und jedem widerspiegelt. Mit Ihren Worten ausgedrückt, hieße das, Gott wäre sowohl das Große Ganze als auch in uns; er hätte uns also geschaffen und wäre dann nicht seines Weges gegangen, sondern in uns selbst geblieben.”
Ich hole Atem und beobachte meine beiden Begleiter. Doch sie bleiben stumm. Es ist nun an mir, auf einen Punkt zu kommen, der Kraft seiner Einheit zwei Pole beinhaltet. Für einen winzigen Moment erinnere ich mich an meine Zeit des Leidens, in der ich nicht nur einmal glaubte, alles, was für mich jemals Bedeutung gehabt hätte, wäre mir genommen worden. Glücklich, noch am Leben zu sein, erkenne ich nun, welch große Vielfalt in diesem Nichts verborgen liegt. Ich spreche weiter:
“Sie, Wilhelm, haben letztlich einen ähnlich gearteten, zweigestaltigen Ansatz verfolgt, anthropologisch betrachtet allerdings eine gegenteilige Wirkung gehabt, indem die von Ihnen beschriebenen, unterschiedlichen Erkenntnisebenen von Sprache und dessen Bedeutung von der Nachwelt lediglich auf die simple kausale Verknüpfung reduziert und damit ihr Wesen missverstanden wurde. Sie selbst haben erwähnt, zum Wesen der Dinge vorstoßen zu wollen, indem Sie Beweiskraft, Evidenz, einforderten und damit die Spaltung von Glauben und Wissen begünstigten. Da natürlich auch Sie ein Kind Ihrer Zeit sind, interpretiere ich diese Spaltung allerdings eher dahingehend, als dass sie eine Konsequenz aus der Lebendigkeit des Universums ist, welche sich vom unterbewussten Wissen einer verborgenen Zweigestalt zum bewussten Glauben an eine Eingestalt reduziert hat. Und Sie sind selbstverständlich ebenso Teil einer solchen interpretatorischen Reduktion wie wir alle. Diese Spaltung macht es jedoch mir und den anderen Protagonisten meiner Gegenwart so schwer, Gewissheit zu erlangen. Denn Gewissheit ist das, was sich aus Glauben und Wissen zusammensetzt. Sie ist letztlich das, was durch ihre Abwesenheit Sicherheit unmöglich macht. Nun gut...”
Ich zögere, habe für eine Sekunde wieder einmal den Eindruck, mich zu verzetteln, komme dann aber wieder zurück:
“Ihr Ansatz war sprachlicher Natur. Das, was Eckhart damit meinte, als er davon sprach, dass diejenigen, die in selbstischer Weise Buße tun und sich so lediglich ihrem eigenen Willen nach gottergeben verhalten, ohne wirklich etwas von der göttlichen Wahrheit verstanden zu haben; das haben Sie, Wilhelm, auf eine weltliche, wissenschaftliche Ebene transportiert, indem Sie behaupteten, die Menschen würden die Realität mit den Zeichen verwechseln, die auf diese Realität verweisen. Und ebenso wie Eckhart mehr von dem Glauben an den Glauben spricht, wenn er die Tiefe von der in allem verborgenen Wahrheit meint, so sind es bei Ihnen die Zeichen, die auf Zeichen verweisen, welche dann erst von dem zeugen, was Realität wirklich bedeutet. Wie ich schon erwähnt habe: Wir reden hier im Grunde alle von derselben Sache. In uns selbst wird diese Sache naturgemäß zum Gleichen. Auch das ist Ausdruck ihrer Zweigestalt. Nur so kann Alles Eins und in jedem Einen auch Alles gleichzeitig sein.”
Meine beiden Begleiter lächeln, und Eckhart sagt:
“Wohl gesprochen, sehr verehrter Jan. Wenn auch etwas wirr; aber ich wusste immer, dass in Ihnen das Zeug steckt, nicht einfach unterzugehen und an dem Unbill des Lebens zu scheitern.”
Wilhelm nickt zustimmend und bemerkt:
“Nun gut, auch ich denke, dass Sie Ihren Weg gehen werden. Allerdings muss sagen, dass Ihnen wohl einige der schwersten Prüfungen noch bevorstehen.”
Ich schaue den Franziskaner verwundert an, fühle mich ein wenig herausgerissen aus meinen eigenen, wohltuenden Worten. Er setzt hinzu:
“Ohne Ihnen nahetreten zu wollen, sehr verehrter Jan, aber Sie ahnen doch selbst, dass Sie im Falle einer tatsächlichen Veröffentlichung Ihrer Gedanken dann die Dinge nicht mehr nur für sich selbst werden rechtfertigen müssen. Es mag sein, dass wir hier zu dritt in diesem, meinen kleinen Raum sehr leicht zu einer Meinung kommen können. Wir repräsentieren hier ja auch nur die verschiedenen Teile einer einzigen Persönlichkeit. Diese in Einklang zu bringen, mag für manche psychisch Kranken unmöglich erscheinen; für Sie, Jan, ist das ein sich aus Folgerichtigkeit ergebender Meilenstein auf Ihrem Lebensweg. Sich allerdings im weiteren Verlauf Ihres Daseins mit denen auseinandersetzen zu müssen, die nicht Ihrer Meinung sind, wird wahrlich nicht leicht!”
Er hebt sein Glas, wobei Eckhart und ich es ihm gleichtun. Dann prosten wir uns zu.
“Ein Hoch darauf, dass wir die Dinge tun, weil sie schwer sind”, sagt der kleine Mönch.
Und Wilhelm ergänzt:
“Unser Bruder hat durchaus recht. Und ich muss zugeben, dass Eckhart und auch mir selbst eine solch schwere Aufgabe in unserem eigenen Lebens gestellt wurde. Gegen uns wurde Anklage erhoben, allein aufgrund der Tatsache, dass wir anderer Meinung waren als die Anderen. Um solchen Anfeindungen mit Ruhe gegenüberstehen zu können, muss man tatsächlich und ziemlich genau wissen, wovon man redet. Denn es ist ja nicht so, dass die Menschen einfach nur das annehmen, was offensichtlich logisch -oder, wie Bruder Eckhart sagen würde: göttliche Wahrheit- ist. Ganz im Gegenteil. Sie werden sehen, dass die moderne Wissenschaft nicht einfach nur behauptet, sie wäre mit dem, was sie behauptet, im Recht. Vielmehr wird diese Wissenschaft ihren Alleingültigkeitsanspruch -genauso wie eine monotheistische Religion- verteidigen wollen. Auch das ist Konsequenz und Folgerichtigkeit, wenn Sie von einem Missverständnis der Zweigestalt sprechen. Denn so, wie ich Sie verstanden habe, werden Sie verständlich machen wollen, dass es zwei Seiten einer Wahrheit gibt, dass damit also Wissenschaft und Religion lediglich zwei Seiten einer einzigen Medaille sind. Das wird jene Menschen auf den Plan rufen, die glauben, eine komplette Münze in der Hand zu halten.”
“Ganz genau”, stimmt Eckhart dem Franziskaner zu und spricht dann selbst weiter:
“Vom religiösen Standpunkt aus gesehen liegt der Grund darin, dass die tiefste, geistige Entität, die Seele, mit so etwas wie der göttlichen Wahrheit in Verbindung steht; dass diese Wahrheit das ist, womit wir auf diese materielle Welt kommen. Wie ich schon sagte: Was ich wollte, das war ich, und was ich war, das wollte ich. So wird alles eins. Und noch etwas: Der Vater fließt in den Sohn. Die gesamte Grundstruktur -oder Gott in seiner Gänze- ist mit dem Moment unserer Geburt schon in uns. In Anbetracht dessen muss das, was zu Ihrer Zeit, Jan, an religiösen, wissenschaftlichen oder esoterischen Weltbildern propagiert wird, mit grundsätzlichen Widersprüchlichkeiten behaftet sein. Und der wahre Grund, warum Sie hier sind, ist doch der, dass Sie als einer der wenigen Menschen auf der Welt in der Lage seid, sich diesen Widersprüchlichkeiten zu stellen, ohne daran zugrunde zu gehen. Und um es noch einmal psychologisch auszudrücken: In Ihr Werk, Jan, werden jene Widersprüche hineinprojiziert werden, die eigentlich in denen verborgen sind, die eine andere Auffassung haben als Sie. Sein Sie dankbar, oder Sie werden scheitern!”
Verwundert schaue ich die Beiden an. Sie sprechen mir aus der Seele, sie sind Teil meiner Seele, und dennoch bin ich immer wieder überrascht, was in mir selbst verborgen ist, beziehungsweise was in mir sozusagen ‘in Tateinheit’ mit dem Universum zum Vorschein kommt. Ich grinse - zu einen aus Stolz, zum anderen aus Galgenhumor, denn ich ahne, was mir bevorsteht. Dann heben wir erneut die Gläser, und als ich einen Blick auf unsere Trinkgefäße werfe, bin ich anfangs überrascht.
Denn roter Wein schimmert mir entgegen!
Meine beiden Begleiter lachen, und auch ich stimme mit ein.
“Trinken Sie!”, sagt Eckhart.
“Und schauen zurück auf Ihr bisheriges Leben. Wenn Sie dann immer noch der Meinung sind, dass es keine Wunder gibt, dann sind Sie hier falsch! Prost!”
Auch Wilhelm nickt. Dann trinken wir..."
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