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Auch diese zweite Leseprobe kann als eine in sich geschlossene, kleine Episode betrachtet werden. Es ist das Jahr 1995, und Jan's Leben hat sich nicht zum Besseren gewendet. Er sitzt abends in seiner Lieblings-Kneipe, vertrinkt sein letztes Geld und geht wieder zurück in seine jämmerliche Behausung. Dort angekommen, stürzt er in eine Bierflasche und schneidet sich den Rücken auf.


1. Teil ("Materie"), 6. Siegel ("Geist"), Seiten 186 bis 193:

"... Mit seinen letzten zwanzig Mark ging er eines Abends aus dem Haus, obwohl es schon empfindlich kalt draussen war. In dieser Zeit der Buß- und Bettage, Volkstrauer- und Totensonntage hatte leichter Frost die Kopfsteinpflaster schon ein wenig rutschig werden lassen, und so schwamm Jan wie so oft mehr als er ging durch die Innenstadt auf dem Weg zu seiner alten Stammkneipe, dem Sixty-Nine. An der Wand neben dem Eingang klebte noch immer die rote, runde Gasentladungslampe, brummte in der Dunkelheit und verströmte durch ihre Zweideutigkeit weiterhin eine sexuelle Aura, von der jeder Alkoholiker nur noch träumen konnte.
Im Sixty-Nine hatte Jan vor ewigen Zeiten Monika kennengelernt. Die Erinnerung daran war in ihm verblasst; er hatte die damit verbundenen Gefühle schon fast eingebüßt, und er glaubte, dass es ihm damals im Vergleich zu heute beinahe gut gegangen war.
Wie einfach erschien ihm in diesem Moment sein damaliges Leben in Anbetracht seiner heutigen Verlorenheit?
Wie konnte es sein, dass es einfach immer nur weiter bergab ging?
Er trat ein, schüttelte sich angenehm kribbelnd, als ihn die stickige Wärme des noch immer schlauchartigen Raumes umschloss und hängte seine Daunenjacke an einen der dafür vorgesehenen Haken. Es waren vielleicht sieben oder acht Leute in der Bar, und aus den Boxen sickerte leiser Elektro-Jazz; ansonsten war es schon fast winterlich ruhig. Hinterm Tresen stand der kleine, dicke Wirt, der ursprünglich einmal aus der Großen Stadt hierher gezogen war, um dem Wahnsinn der vierundzwanzigstündigen Saufgelage auf den dortigen Amüsiermeilen zu entgehen. Hier jedoch, in dieser merklich kleineren Stadt, hatte er es lediglich geschafft, die Biere mit etwas mehr Ruhe auszuschenken und seine eigenen Kurzen zusätzlich mit einem Hang zum Fatalismus zu kippen.
“Wann zahlst du?”, fragte der Dicke ihn, als Jan sich auf einen der Barhocker an die Theke setzte.
“Monatsanfang”, antwortete er augenblicklich, so als hätte er nur auf diese Frage gewartet. Mit einem Mal wurde ihm klar, dass er die Möglichkeit, auf Kredit saufen zu können, gar nicht ins Auge gefasst hatte, dass aber dennoch genau dies wohl seine eigentliche, unterbewusste Motivation gewesen war, als er sich entschlossen hatte, das Haus zu verlassen und hier nach so langer Zeit einmal wieder aufzutauchen.
Er wunderte sich über das Angebot des Wirtes, doch noch mehr wunderte ihn die Erkenntnis, dass offenbar sein Unterbewusstes wieder einmal nicht nur Dinge tat, von denen seine alltägliche Empfindung der Realität nichts ahnte, sondern dass dieses Unterbewusste auch Sachverhalte vorausahnte, die sein eigener Wille, der freie oder unfreie, nicht wusste. So zum Beispiel die Tatsache, dass der Wirt seinen Wunsch nach einem Zahlungsaufschub antizipieren würde. ‘Vielleicht bin ich mittlerweile aber auch nur zu einem stadtbekannten Säufer mutiert, von dem sowieso niemand mehr ernsthaft erwartet, am Monatsende noch Geld zum Saufen zu haben.’, sinnierte er vor sich hin.
Dann trank er von dem großen Bier, welches vor ihm stand und drehte sich eine filterlose Zigarette von dem Tabak, den er aus Kostengründen schon seit längerem rauchte.
Der Gedanke, dass alle um ihn herum im Grunde genommen wussten, dass er ein hoffnungsloser Alkoholiker war, ließ ihn noch ein wenig gekrümmter auf dem Barhocker sitzen.
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Er dachte an die Zeit zurück, in der er mit hochfliegenden Ambitionen Abitur gemacht hatte; entgegen aller Widrigkeiten, die schon seit Anbeginn seiner frühesten Kindheit nur darauf gewartet hatten, sich ihm immer wieder in den Weg stellen zu können. Der Verlust des familiären Zusammenhalts, der Verlust seiner räumlichen Heimat, die vielen kleinen oder größeren Verletzungen, die ihn fast einmal pro Jahr ins Krankenhaus gebracht hatten, die Ängste seiner Kindertage vor Tod, vor Dunkelheit und Einsamkeit - und dazu dieser wie unerfüllbarer, dennoch unstillbare Wunsch nach Liebe.
Dies sollte das Leben sein?
Jan erschien es mehr wie ein einziger, ein einzigartiger großer und tiefer Fall ins Bodenlose. Selbst das, was ihn mit Stolz erfüllte, wie sein Abitur, war nur noch Teil einer Kulisse im großen Film seines Scheiterns; es setzte dort einen melancholischen Kontrapunkt zu seinem Leiden und multiplizierte es auf diese Weise. Selbst sein Traum, ein großer Schriftsteller und Philosoph zu werden, sich damit quasi alle seine Probleme von der Seele zu schreiben, blieb nur ein Traum.
Niemand hörte davon, niemand wusste davon, niemand bemerkte diesen Traum.
Und nach dem vierten oder fünften Bier bemerkte auch niemand mehr in der Kneipe, dass aus Jans Augen langsam aber salzig kleine Tränen quollen, über seine Wangen kullerten und von dort in den Schmutz am Tresen fielen und zerplatzten. Er zog den Rotz aus seiner Nase hoch, schluckte ihn runter und senkte den Kopf.
Seine Tränen hinterließen auf den Fußboden blasse Flecken wie dunkle, platte Sterne.
Jan dachte für einen Moment an die unzähligen Sonnen, die er nach seinem Pilztrip auf der Bank am Wasser sitzend über ihm hatte glitzern sehen. Und er dachte an den Moment, in dem sich damals das gesamte Universum in ihm gespiegelt hatte wie die Lichtstrahlen im Brennpunkt einer Linse. Doch auch das schien seine Bedeutung verloren zu haben. Es war einer schwermütigen Erinnerung gewichen.
Er wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und stand auf.
“Kannst mir noch ne Flasche Bier für den Heimweg mitgeben?”, fragte er den Wirt, der wie immer und wie unbeteiligt seiner Arbeit nachging. Er hatte sich gerade einen Kurzen genehmigt, griff nun nach unten in den Kühlschrank und stellte eine Null-drei auf den Tresen.
“Meinst, das langt?”, bemerkte er ironisch.
Jan hätte gerne nein gesagt und noch um einige Biere mehr gebeten, doch er nickte nur, denn er hatte bemerkt, dass auch zehn nicht reichen würden.
Mit der Flasche in der Hand verließ er das Lokal.
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Vor den sieben Stufen, die hinauf in den muffigen Hausflur seines Mietshauses führten, stand er eine Weile, atmete grau-weiße Luftschwaden in die stumme Dunkelheit und blickte mit offenem Mund in den dunklen Schlund wie in das Maul eines Monsters. Vor nicht allzu langer Zeit hatte er sich hier fast die Pulsadern aufgeschnitten. Dann ging er durch die Schwärze, durch den Moder und den Pissegeruch bis nach oben.
Als die Tür sich öffnete, hallte das metallene Klacken des Schlosszylinders in der Stille wie ein Pistolenschuss. Er trat ein, machte Licht und setzte sich erschöpft von tiefer Traurigkeit in die Küche. Eigentlich musste er pinkeln, doch er öffnete mit seinem Einwegfeuerzeug die Bierflasche und ließ sich den ersten Schluck schäumend in den Rachen laufen.
Noch immer echote das kalte Schnappen des Schlosses durch seinen Kopf.
Und als er die Flasche auf den Küchentisch stellen wollte, geschah es: sie kippelte, schwankte am Rand der Holzplatte, hielt für einen beinahe surrealen Moment inne, um dann kopfüber hinab zu fallen und auf dem Linoleumboden zu zerbersten.
Sie hinterließ einen platten, sternförmigen Fleck aus braunen Scherben und Bier, fast wie Jans Tränen, die er zuvor auf dem Fußboden der Kneipe hatte zerplatzen sehen.
“Scheiße!”, rief er und rutschte mit seinem Stuhl ein Stück zurück; heraus aus der Gefahrenzone.
Als er dann jedoch aufstehen wollte, glitt er mit seinen Halbschuhen durch die Bierlache, fuchtelte für den Bruchteil einer Sekunde mit den Armen in der Luft herum und stürzte dann haltlos und mit dem Rücken voran in den nassen Stern, die nasse, tote Sonne. Dumpf stöhnte er, und ein heiß stechender Schmerz zog ihm das Rückgrat hinauf bis in den Nacken; hinunter bis in seinen Zehenspitzen. Dann verschwand der Schmerz wieder, wich einer wohltuenden, fast beruhigenden Wärme.
“Gott sei Dank; nichts passiert.”, sagte er leise vor sich hin, nachdem er Sekunden später leicht schwankend und zitternd von der Aufregung in der Küche stand.
Und dennoch spürte er eine seltsam verborgene Furcht in der von seinem Rücken ausgehenden Wärme. Vorsichtig ließ er seine rechte Hand nach hinten wandern und fand knapp über der Hosennaht seiner Jeans einen feuchten Fleck.
Augenblicklich und blitzartig durchfuhr ihn erneut ein heißer Schmerz, so als hätte ihm jemand ein glühendes Schüreisen in den Körper gerammt. Ihm wurde schwindelig, und er musste sich am Kühlschrank festhalten, um nicht erneut in die Scherben zu fallen.
Rote Striemen von Blut verschmierten sich dick und genau dort, wo seine Hände den Kunststoff berührten.
Sein Atem ging heftiger, und er bekam es mit der Angst zu tun.
Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht.
Dann wurde Jan plötzlich schlagartig nüchtern; das Hier und Jetzt war augenblicklich so präsent, dass für nichts anderes mehr Platz blieb.
Kein woher, wohin, kein warum und kein wieso.
Kein Traum.
Er bückte sich, um seine Schnürbänder zu öffnen und grunzte vor Schmerz als die Rückenkrümmung die scheinbare, nicht sichtbare Wunde noch ein Stückchen weiter öffnete.
Nervös, von brennendem Ärger und nun wie wilder Angst erfüllt, schmiss er die Schuhe weit von sich und fummelte mit zittrigen Händen an seiner Jeans. Irgendwie bekam er sie von seinen Beinen gezogen, wagte jedoch nicht mehr, sich am Rücken zu berühren, sondern bemerkte nur den großen, dunklen Fleck auf der Rückseite der blauen Baumwollhose.
Mit Socken, Unterhose und T-Shirt bekleidet, schwankte er ins Bad. Sein Geist war ausgefüllt von purer, kristallklarer Körperlichkeit: Schmerz, Schwindel, Hitzewellen, die ihn mit Schweißperlen überrollten, dann abkühlten und ihn erzittern ließen, jedoch keine Möglichkeit der geistigen Reaktion darauf zuließen; Speichel sammelte sich in seinem Mund, als wäre dort ein Wasserhahn geöffnet worden, und er hatte Mühe, seinen Harndrang zu kontrollieren.
Wieder einmal war er kurz davor, aus allen Körperöffnungen gleichzeitig auszulaufen, nur dass er dieses Mal wohl noch ein weiteres Loch hinzu gefügt hatte. Doch er konnte nichts mehr davon reflektieren, denn der Augenblick ließ es nicht zu. Er kämpfte damit, einen kompletten Zusammenbruch zu verhindern und vor Schwäche einfach auf dem Boden des Badezimmers liegen zu bleiben.
Sein Kreislauf schien sich zu verflüchtigen wie ein Dieb in der Nacht.
Schließlich stand er schwer atmend an die gelben Kacheln gelehnt und urinierte; zitternd und nicht unbedingt von Erfolg gekrönt achtete er darauf, nicht neben das Klobecken zu treffen. Dennoch war er für einen kurzen Moment froh, an der Wand einen Halt gefunden zu haben.
Dann spülte er und blickte nach unten auf den Fußboden, denn er spürte Wärme an den Füßen. Seine Socken standen in einer riesigen, runden, im Durchmesser mindestens vierzig Zentimeter großen Blutlache!
Das konnte nicht sein!
Noch nie zuvor hatte er so etwas schon einmal gesehen.
So viel Blut!
Wo kam das alles her?
Er puhlte sich angestrengt die nassen Strümpfe von den Füßen, atmete heftig, bis ihm der Rotz aus der Nase lief und zog sich auch die Unterhose aus. Ihm schwindelte, er musste sich am Spülkasten festhalten und spuckte einen Mund voll Speichel in die Kloschüssel. Dann begann er, noch heftiger zu schwitzen, riss sich das T-Shirt vom Oberkörper; auch dieses war zum Teil von Blut durchtränkt. Nun war Jan komplett nackt. Daraufhin wankte er hinüber zum Spiegel, beziehungsweise zu dem einen großen Bruchstück davon, welches auf der Ablage über dem Waschbecken stand, verschmierte dabei das Blut auf dem Boden und hinterließ klebrige, rote Fußabdrücke. Er wollte sich die Wunde genauer anschauen.
Mehrmals drehte er sich um, stellte sich auf die Zehenspitzen und hielt sich am Waschbecken fest, bis er bemerkte, dass er den gezackten Rest des Spiegels auch einfach vom Regal nehmen konnte, um das Dilemma darin zu betrachten.
Derweil hatte sich auch vor dem Waschbecken schon eine Blutlache gebildet.
Er beachtete sie nicht weiter, sondern griff das Bruchstück, hielt es mit der rechten Hand hinter sich und drehte seine Hüfte so, dass er einen Blick auf die Verletzung werfen konnte. Doch laut stöhnend und fluchend quittierte er den puren, rasenden Schmerz, den diese einfache Körperdrehung verursachte.
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Und dann blickte Jan mit offenem Mund und mit Tränen in den Augen so tief in sein Innerstes, wie er es noch nie zuvor getan hatte: Knapp über dem rückwärtigen Ende seines rechten Beckenknochens und unterhalb des ersten Rippenbogens hatte sich eine zwölf bis fünfzehn Zentimeter lange Spalte aufgetan, beinahe halb so tief wie breit. Mit Stetigkeit und dunkler Röte floss das Blut aus diesem ovalen Loch, sammelte sich für einen Moment an dessen weißer und hell erstrahlender Kante - dort, wo die Haut durchtrennt worden war und nur noch halbherzig das blutige Fleisch vor dem Auseinanderquellen bewahrte. Das Blut verdichtete sich an dieser weißen Kante zu zwei, drei oder auch vier fingerdicken Kanälen, die zuckend, als hätten sie ein Eigenleben, erst über seinen nackten Hintern, seine Oberschenkel, in den Kniekehlen kitzelnd und dann bis hinunter auf den gelb gefliesten Fußboden rannen. Dort verteilte das Blut sich in rundlich geformten Bahnen, glitt zuerst in die Fugen des Keramikbodens und bildete schließlich, nur von seiner Oberflächenspannung gehalten, dunkelrot glitzernde Tümpel.
Zusätzlich zu diesem unaufhörlichen, dunkelroten Strom verstärkte sich nun auch wellenartig und wie mit seinem Herzschlag pulsierend der brennende Schmerz. Er hatte mit einem Mal die Assoziation, durch diese heiße, fleischige Spalte nicht nur zu erblicken, wie es im Inneren seines Körpers aussah, sondern er glaubte auch, wie in das Zentrum einer Sonne zu schauen, ohne davon geblendet zu werden. Es war ihm, als brannte in ihm die Energie einer Kernfusion, symbolisiert durch den fast übermächtigen und heißen Schmerz, der ihn erfüllte. Es war ihm, als wollte der Schmerz aus ihm heraus treten, so wie auch das Licht aus der Sonne heraus strahlte; nur dass dieses Licht den Tod brachte.
Er legte den Spiegelrest zurück auf das Waschbecken und drehte an dem Wasserhahn. Anfangs dachte er daran, die Wunde auszuwaschen; doch nach einigen schmerzhaften und vergeblichen Versuchen gab er es auf.
Es war zu viel Blut.
Und es hörte nicht auf.
Verzweifelt, mit blutverschmierten Fingern, nackt und in roten Pfützen stehend, blickte Jan um sich und ging hinüber zur Waschmaschine, die neben der Duschwanne stand. Er griff sich eines der weißen Handtücher, die dort gestapelt lagen, faltete es zu einer kleinen Rolle und presste die Baumwolle dann vorsichtig auf die Wunde.
Wieder musste er heftig keuchen als es brennend durch seinen Körper zuckte.
Ihn ihm herrschte die alles überstrahlende Klarheit des Schmerzes, und dennoch war er wie von Sinnen; vollkommen ernüchtert und dennoch in einer komplett anderen Welt; mit allen Sinnen auf sich selbst gerichtet und dennoch völlig ausser sich.
Jenseits von Gut und Böse.
Immer wieder grunzend und stöhnend, so als hielte er Zwiesprache mit seinem eigenen Leid, ging er ins Wohnzimmer, blickte mit weit aufgerissenen Augen hin und her, um vielleicht in diesem nur stumpf von den Straßenlaternen beschienenen Halbdunkel irgendetwas zu erkennen, an dem er Halt finden, diesem Wahnsinn entfliehen könnte.
Doch nichts.
Nichts geschah.
Es war, als hätte er zum x-ten Mal in den Kühlschrank geschaut, und noch immer war er leer.

Doch er selbst war noch lange nicht leer.
Sein Blut war noch nicht alle.
Schon nach wenigen Minuten, in denen er fassungslos im Wohnzimmer gestanden hatte, bemerkte er, wie das Blut durch das Handtuch und zwischen seinen Fingern hindurch auf den Teppich tropfte. Er taumelte zurück ins Bad und zuckte zusammen wie von einem elektrischen Schlag getroffen als sich der Stoff laut schmatzend von der Wunde löste. Ungläubig starrte er daraufhin den roten Lappen in seiner Hand an und ließ für einige Sekunden das Blut in dünnen Fäden und kleinen, glitzernden Blasen auf die gelben Fliesen fallen.

In diesem Moment empfand er dieses Bild als etwas Vollkommenes, etwas zutiefst Ästhetisches und Schönes. Für Sekunden war Jan gefangen beim Anblick seines roten Infernos.
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Dann schmiss er das vollgesogene Handtuch in die Duschwanne.
Es klatschte hell, und das Blut spritzte weit die gelben Wände hoch.
Daraufhin griff er sich ein neues der weißen Tücher und schwankte ratlos und zurück ins Wohnzimmer. Doch dort angekommen, begann er plötzlich und ohne einen erkennbaren Grund, leise vor sich hin zu summen. In ihm entstand eine unbekannte Melodie; vielleicht noch nicht einmal so etwas wie eine Melodie, eher eine tonlose Schwingung, zu der er schon bald und unwillkürlich seine vom Blut klebrigen Füße über den Teppich bewegte. Langsam drehte er sich im Kreis, hielt den Stoff weiter auf die Wunde gedrückt und ließ sich treiben in dieser aus dem Nirgendwo entspringenden Musik. Ruhe kehrte in ihm ein.
Es war, als wäre er -wie so oft in seinen Träumen- unter Wasser, und er könnte atmen.
Für lange Minuten tanzte er blutig einen nackten Tanz im Halbdunkel seines Wohnzimmers; zu einer imaginären Melodie, die niemand hörte ausser ihm. Irgendwie konnte er sich daran erinnern, schon einmal einen solchen Tanz getanzt zu haben. Damals, als er ein kleiner Junge gewesen und über den von seinen Freunden und ihm gegrabenen Höhlen einem frustrierten und bitteren Lied der Zerstörung gefolgt war.
Er musste plötzlich weinen, während er weiter langsam und fast lautlos tanzte.
Und dies war der Moment, in dem er realisierte, dass er nicht sterben würde.
Denn würde er hier verbluten, so wären dies die soeben geweinten Tränen nicht wert gewesen. Wenn er schon weinte, dann musste das auch einen Grund haben.
Doch schon kurz darauf musste er zurück ins Bad und die Handtücher tauschen, denn das Blut begann erneut, durch seine Finger zu tropfen. Noch zweimal ging Jan in dieser Nacht vom Wohnzimmer ins Bad und zurück, um das Handtuch zu wechseln.
Langsam und leise vor sich hin weinend wiegte Jan sich die ganze Nacht zu den Tönen einer imaginären Melodie. Als der Morgen graute, war die Blutung gestoppt, und er fiel sowohl geistig als auch körperlich vollkommen entleert in sein Bett. Daran, dass er mit dem Telefon den Rettungswagen hätte rufen können, hatte er niemals gedacht.

Und ihm war seltsam klar, dass er mit diesem Erlebnis den Sinn oder die Bedeutung seines Blickes in den Spiegel und damit auch den in sich selbst formuliert hatte: Jeder Mensch war eine Sonne..."



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