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Wie man schon unschwer erkennen kann, handelt es sich bei "der_wassermann" um ein sehr komplexes Werk, obwohl es eigentlich zum Ziel hat, das Sein an sich auf einen einzigen Urgrund zurück zu führen. Doch die Reise bis dorthin hat sich als eine sehr komplexe entwickelt, und ich werde deshalb die Leseproben auch wie eine Reise (durch das Buch) gestalten.

Beginnen möchte ich mit einer kleinen Episode aus dem Leben von Jan, dem sinnsuchenden Hauptdarsteller des Romans. Hierbei handelt es sich um einen Vormittag im Jahre 1988, an dem Jan morgens aufsteht, zum Bahnhof geht, um zur Universität zu fahren und auf der Zugfahrt eine schwere Unterzuckerung erleidet. Im Buch ist diese Episode ca. 8 Seiten lang, und sie enthält eine Menge Facetten aus Jan's Persönlichkeit und seiner Welt- und Selbstanschauung, die als Elemente im Roman immer wiederkehren. Auch ein Traum, ein Ausblick in den "Raumlosen Raum", ist Teil dieser Episode.
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1. Teil ("Materie"), 2. Siegel ("Gemeinsamkeit"), Seiten 42 bis 50:

"... So saß er also an einem Morgen -und vielleicht hätte es jeder x-beliebige Morgen sein können- zwischen den Brotkrümeln, den Büchern, die sich in Kaffeeflecken stapelten, zwischen einem angebissenen Toast mit Marmelade und der über dem müllbeladenen Innenhof aufgehenden Sonne desillusioniert und dennoch voller Gedanken und versuchte, mit den Fingern den Rhythmus des grünen Weckers zu halten. Als es ihm gelang, hätte er weinen können, denn er fühlte sich getrieben und entseelt wie eines dieser Rädchen in der Unruh. Ein kühler Luftzug kam durch das gekippte, schmierige Fenster und ließ ihn frösteln, also entschloss er sich, seine alte Ledertasche zu greifen und zu gehen.
‘Wie kann man nur so blöd sein?’ war dann der letzte Gedanke, auf den er sich konzentrierte, bevor er die Wohnungstür hinter sich abschloss. Sein Weg zum Bahnhof führte ihn einige Meter den welligen Bürgersteig entlang bis zur ersten Gabelung des Kopfsteinpflasters. Der vom Tau benetzte Steinboden ließ seine Halbschuhe schwimmen, und die langgezogenen Schatten der fachwerkenen Fassaden kühlten auch sein bohrendes Hirn. Er sog die Frische und Kraft der morgendlichen Luft in sich ein und ging weiter seinen Gang durch ein kurzes, so früh noch wie totes Stück Fußgängerzone, welches sich herumbog um mehrere, dicht an dicht und Leuchtreklame an Leuchtreklame geklebte Geschäfte.
Einladend und verlockend sollte erscheinen, was es dort zu kaufen gab: Edle Schmucksteine versprachen ewigwährende Partnerschaft und waren doch nur plasteline Imitate ihrer selbst, Strass statt Stress; sauber gebügelte Hemden und modisch frisierte Puppen warteten nächtelang auf solvente Kundschaft, immer mit der stummen Belohnung eines vollendeten Glücks; Rasierschaum und Haarspray, Haushaltsreiniger mit Tiefenformel und Waschmittel in Zwei-Phasen-Tabs verzerrten die Welt zu einer schier surrealistischen Sauberkeit, die nirgendwo ausser in den ewig präsenten Werbebotschaften zu finden war; Deodorants für Männer, die nach allem rochen, nur nicht nach Mann; Parfüms für Frauen, die deren herrliche Fülle und Vitalität mit einer Maske widerwärtiger Gerüche überdeckten und Reisen in ferne Länder, an einsame Strände, die die Sehnsucht bedienten, diesem Ganzen dann zu entfliehen.
‘Die Christlich-Liberalen haben ganze Arbeit geleistet, als sie uns eine neue Welt versprachen,’ dachte Jan. Er fühlte sich verspottet von einer oberflächlichen Prachtentfaltung, die in glänzendem Licht nur die Sonnenseiten des Lebens anpries und ihm das Bild einer in sich stimmigen und widerspruchsfreien Welt vorgauckelte, in der alles möglich und erreichbar war, wenn man sich nur an deren ungeschriebenen und unausgesprochenen Gesetze, jene des Geldes, hielt. Haben oder Sein, hatte Erich Fromm schon oft in einer seiner vielzahligen und klargeistigen Bücher so treffend formuliert, war eine Entscheidung, die jeder für sich in dieser Warenwelt treffen durfte, und mit der Wende der Konservativen hatte auf jeden Fall das Erstere gewonnen; so als wäre das Leben nur ein Kampf: survival of the fittest. Am Bahnhof angelangt, ging es Jan nicht besser als bei seinem Aufbruch. Wie jeden Morgen sah er die gleichen Gesichter, las in ihnen die gleichen Gefühle, erkannte die gleichen Tagesabläufe und vermisste ein zumindest ansatzweises Aufbegehren gegen ihr eigenes, kümmerliches Dasein. Seitdem er in der Schule von den Schrecken des Dritten Reiches gelernt hatte, war für Jan kritiklose Gemeinsamkeit eine Form von Massenpsychose. Unbändige Wut stieg für Momente in ihm empor, und ein Affekt der Verachtung für diese wie bewusstlose Gemeinschaft bemächtigte sich seiner. Er begann, die Menschen zu hassen, wie sie tagein, tagaus steif und starr ein Leben ohne Höhen oder Tiefen lebten, fast schon als wären sie tot.
Für ihn war die Welt um ihn herum tot; denn was sollte diese Konformität, immerwährende Gleichheit, Abgestumpftheit und Abgesondertheit von den Untiefen des Daseins ansonsten bedeuten als der Tod?
Der Tod in glatten, dunklen Hosen. Der Tod als grinsende, schwatzende und zu einer Karikatur ihrer selbst geschminkte Sekretärinnen. Der Tod als Wolken aus Rasierwasser, Fettcreme und schwarzen Aktenkoffern, deren Ecken noch glänzten und deren Schlösser von Zahlenkombinationen geschützt waren. Geschützte Pausenbrote, geschützte Rätselhefte, Tageszeitungen, Taschenrechner, geschützte Leben, ein geschütztes Nichts.
Er ging in den Bahnhofskiosk, kaufte sich eine Packung Filterlose und eine Zeitung. Kurz darauf fuhr ratternd und erbärmlich quietschend der Zug ein. Er folgte mit einigen anderen Pendlern dem Raucherabteil, welches noch einige Meter an ihnen vorbeiholperte. Plötzlich und unvermittelt überkam ihn der Gedanke, dass er selbst auch nur Teil dieser erbärmlichen, immer wieder gleichen Gemeinschaft war, dass sich seine Einsamkeit ganz unspektakulär und banal in einer Gemeinsamkeit verflüchtigte, die er so niemals gewollt hatte und so auch nie wollen würde.
‘Ich bin es selbst,’ strafte er sich schmerzerfüllt mit seiner Ledertasche voller Bücher und der Zeitung in der Hand. ‘Hier stehe ich, hasse die Menschen, weil sie tun, was sie tun. Dabei tue ich auch nichts anderes; ich bin mir lediglich dessen bewusst, ändere aber auch nichts daran.’
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Er stieg mit der wartenden Schlange die metallenen Stufen bis in den Wagon, und wieder quoll Hass tief aus ihm empor, nun jedoch gegen sich selbst.
Und genauso nur weil er das tat, was er tat.
Er setzte sich auf einen der wenigen freien Plätze und zündete sich eine Zigarette an. So wie die Sonne morgens aufging, die Erde sich um ihre eigene Achse drehte und das Universum sich ausdehnte, so geschah nichts Neues. Auch in der Welt der Nachrichten war alles beim Alten, bemerkte Jan, als er die Schlagzeilen überflog. Irgendwo war Krieg, irgendwen interessierte dies mit einer Mischung aus Faszination und Abscheu, irgendjemand regierte einen Globus mit irgendwie zwei unterschiedlichen Ideologien, irgendwann sollte einmal alles besser werden, und von irgendwoher würde dann auf jeden Fall irgendwer kommen und uns alle erretten. Jesus hatte genau dies schon einmal für uns getan, war dafür gestorben, und auf ihn berufen sich heute immer noch all jene, die bereit waren, auch weiterhin Menschen wie Jesus zu töten, weil sie ihn nicht verstanden.
Irgendetwas stimmte daran nicht.
Jan legte die Zeitung auf seinen Schoß, döste vor sich hin, konnte aber nicht einschlafen, auch wenn die Fahrt noch fast eine Stunde dauern sollte. Der Zug führte hinein in die Große Stadt, hinein in das von ihm so sehr gehasste und dennoch insgeheim so sehr ersehnte Moloch der Gemeinsamkeit. Dort studierte er Politikwissenschaft; mit Nebenfach Psychologie. Nicht greifbar, nicht begreifbar, war ihm der eigentliche Grund dafür, vielleicht sogar der Urgrund, der seinem Leben einen Sinn zu geben vermochte.
Er hatte sich -so wie es seine träumerische, träge und langsame Art war- zwei Wochen zu spät für sein Studium eingeschrieben und so eigentlich alle Einführungs- und Kennenlernveranstaltungen verpasst. Also saß er nicht nur morgens im Zug zusammen mit den Anderen in einem Abteil und fühlte sich dennoch völlig abgesondert von ihnen, sondern er studierte auch gemeinsam mit anderen, kannte jedoch keinen seiner Kommilitonen, geschweige denn eine seiner Kommilitoninnen. Insofern fühlte er sich auch dort so, wie er sich immer fühlte: eingebunden in ein scheinbar wundervoll funktionierendes System von Abhängigkeiten, von interagierenden Abläufen innerhalb einer harmonischen Ganzheit, einer geschmierten Maschinerie des Zusammenlebens und -lernens, jedoch auch gleichzeitig ausserhalb davon stehend und wie nicht dazugehörig, gespalten und fremd.
Er fühlte sich teilhaftig an Allem und abgesondert von Jedem.
Gemütlich und kraftvoll, so als wäre seine machtvolle Energie in unsichtbare Ketten gelegt, ruckelte und zuckelte der Nahverkehrszug durch die ebenso verhalten erblühende Landschaft. Jan wurde müder und müder von der Wärme der seit den ersten Herbsttagen angeschalteten Heizung, dem sauerstoffzehrenden Zigarettenqualm, dem unsäglich sinnentleerten Gerede seiner Mitreisenden und dem seit dem gestrigen Abend in ihm zuckerverbrennenden Alkohol. Wie der Schleier einer orientalischen Schönheit legte sich eine imaginäre Burka über seine bewusste Welt- und Realitätswahrnehmung, ließ ihn hinabgleiten in ein anderes, ebenso reales, weil existentes Universum.
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Ich bin nackt. Dennoch friere ich nicht. Es ist angenehm warm, und doch ich empfinde dies nicht als einen Gegenpol zu vermeintlicher Kälte. Es ist. Es ist gut. Ich wandere durch den raumlosen Raum, und mein Penis schlägt dabei weich gegen meine Schenkel. Meine unbeschuhten Füße spüren keinen Untergrund, und ich glaube meine Nacktheit als normal und angenehm. Weit entfernt am Horizont entwickelt der fahle, graue Schemen seine Kontraste; er wird zu einer Brücke, die von dem einen Nichts in das andere einen Bogen schlägt. Plötzlich und unvermittelt hält ein Omnibus neben mir, so als hätte ich an einer Haltestelle gestanden und gewartet, mitgenommen zu werden. Ich steige ein. Der Bus ist nahezu voll besetzt, und alle Mitreisenden sind bekleidet. Sie reden miteinander, doch ich kann keines ihrer Gespräche verstehen, obwohl ihre Mimik und Gestik mir Anlass dazu gibt, dahinter eine Sinnhaftigkeit zu vermuten. Niemand jedoch scheint sein eigenes Tun zu reflektieren oder gar zu hinterfragen. Es ist. Es ist anders als ich. Wir setzen uns in Bewegung und fahren entlang des Horizonts, so dass wir, wenn wir unsere Fahrt so fortsetzen, die Brücke knapp verfehlen und im Nichts enden würden. Ich blicke an mir hinunter. Mein Penis ist schön und ebenmäßig geformt; ich empfinde keine Scham, verspüre jedoch Unsicherheit, ob meine Nacktheit nicht vielleicht unpassend sein könnte. “Warum trägst du keine Hose?” spricht mich jemand an, ich zucke mit den Schultern. Dann hält der Bus an, und ich steige wieder aus. Dies ist nicht meine Richtung. In diesem Moment
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sagte jemand zu ihm: “Na gut, Herr Jan, dann haben wir wohl alles.”
Ein Mann schaute ihn gutmütig lächelnd an, jedoch auch mit einem mahnenden Gesichtsausdruck.
“Und Sie sind sicher, dass Sie jetzt keine Hilfe mehr benötigen? Sie wissen, dass Sie eigentlich nicht mehr alleine unterwegs sein sollten?!”
“Ja, is klar. Aber ich komm schon zurecht.”
Der Mann war kaum älter als Jan, groß, schnurrbärtig, und er trug eine dieser rot-orangefarbenen Jacken, die ihn als Rettungssanitäter auswiesen. Sie saßen im Inneren eines Krankenwagens; es roch steril, nach Desinfektion und Sicherheit im Zeichen der Medizin. Jan fühlte sich wie nach einem Marathonlauf. Es war ihm, als wäre er soeben zur Ader gelassen worden; blutleer, kraftlos, ausgebrannt, sämtliche Muskeln zitterten wie trockenes Laub im Sturm, und kalter Schweiß bedeckte den gesamten Körper, so dass seine Kleidung klamm an ihm hing. Auch sein Atem schien kaum noch Sauerstoff zu enthalten. Auf dem Fahrersitz des Wagens saß ein weiterer Mann und schaute interessiert durch die kleine Glasscheibe nach hinten. Jan rutschte unsicher von der Bahre, auf der er gesessen hatte und stellte sich unter größten Anstrengungen auf seine wackligen Füße. Der Schnurrbarträger griff ihm helfend unter die Arme, öffnete dann aber -als er bemerkte, dass Jan auf eigenen Beinen stehen konnte- die Türen des Wagens. Ihnen schlug die frische Luft entgegen, und eine Traube von gierigen Menschen starrte in das Loch, aus dem er nun wieder hinausstieg.
Der Tag war gelaufen. Eine solch schwere Unterzuckerung hatte er schon zweimal erlitten, und sie entleerte ihn nun wie auch früher völlig, total, komplett. Er wusste, dass er den gesamten Tag über nicht mehr wirklich zu Kräften kommen würde. Beide Male war ihm dies passiert, nachdem er beim Sport bis an seine körperliche Leistungsgrenze gegangen war - und beide Male, seitdem er drei oder vier Jahre zuvor von Ärzten auf eine neue, dennoch segensreiche Insulinsorte umgestellt worden war, die man auf der Grundlage der modernen gentechnischen Manipulation entwickelt hatte. In Verbindung mit seinem übermäßigen Alkoholkonsum hatte er so etwas allerdings noch nie erlebt.
Er stand auf dem Bahnhofsvorplatz der Großen Stadt, und es war im unendlich peinlich, von einer gaffenden Menge lüstern und mit gleichzeitigem Abscheu begutachtet zu werden -fast so, als wäre er entweder nackt, vielleicht vom Himmel gefallen oder sogar aus der Hölle emporgekrochen. Vermutlich traf in diesem Moment alles auf ihn zu.
Noch immer schwitzte er kalt und zitterte.
Die Menschenmasse verflüchtigte sich widerwillig wie Ameisen, die sich eigentlich einem ergötzenden Liebesspiel hingeben wollten, dann jedoch bemerkten, dass es ihre ursprüngliche Aufgabe war, der Königin zu dienen. Sie gingen tuschelnd ihrer Wege. Eine Person blieb jedoch nicht weit von ihm entfernt stehen. Es war eine ältere, etwas dickliche und kleine Dame mit kurzen, weißen Haaren, einem grauen Rock und einer grünen Jacke. Sie hatte eine schwarze Handtasche unter ihren rechten Arm geklemmt, als wäre dort der Sinn des Lebens verborgen.
“Sie sind ja wieder am Leben”, flötete sie Jan lächelnd entgegen.
“Gehts Ihnen denn wieder gut? Ich hab’ mir solche Sorgen gemacht.”
“Ja, ja, geht schon wieder”, antwortete er widerwillig und blickte hilflos hin und her. Er hatte keine Ahnung, mit wem er hier sprach. Der Rettungswagen entfernte sich langsam und mit eingeschalteter Warnblinkanlage.
“Meine Güte, ich hab’ mir solche Sorgen gemacht”, wiederholte sie.
“Was ist denn eigentlich passiert?”, fragte Jan, nachdem er registriert hatte, dass er hier nicht so schnell wegkommen würde. Die Dame blickte ihn erstaunt, aber freundlich an.
“Was? Das wissen Sie nicht mehr? Sie hatten einen Zuckerschock!”
“Ja, das ist mir schon klar. Aber haben Sie bemerkt, wie es dazu gekommen ist?”
Sie schaute ihn noch erstaunter an, und ihre Fröhlichkeit wich leichtem Entsetzen.
“Das wissen Sie auch nicht mehr? Mein Gott!”
“Nein, weiß ich nicht!” Er war genervt. Woher sollte er wissen, was passiert war. Das Letzte, an das er sich erinnern konnte, war, dass ihn im Zug die Müdigkeit übermannt hatte. Ausserdem wollte er so schnell wie möglich nach Haus. Und er wollte so schnell wie möglich ein Bier trinken. Stattdessen nutzt er die kurze Pause, die entstanden war, weil er so gereizt reagiert hatte, um sich eine Filterlose anzustecken. Die ersten Züge schmerzten wohltuend, und er glaubte, durch die gefäßverengende Wirkung des Nikotins seinen Zuckerspiegel wieder sinken zu spüren.
“Wir haben uns in der Bahn ganz nett unterhalten”, sagte die ältere Dame.
“Sie heißen Jan und studieren hier irgendwas mit Politik.”
Sie lächelte wieder.
“Sie sind so ein netter Mensch...”
“Danke”, sagte er.
“Ich habe den Eindruck, dass Sie mir das Leben gerettet haben.”
Die Frau errötete und sagte:
“Nun ja, mein Mann hat auch Zucker; und als ich bemerkt habe, dass Sie immer verwirrter geworden sind und so komische Zuckungen bekommen haben, wusste ich, was los war. Da habe ich den Schaffner gerufen. Gott sei dank waren wir da schon fast am Ziel.”
“Zuckungen?” Jan wurde es langsam immer peinlicher; seine Achselhöhlen juckten, und diesmal schwitzte er heiß.
“Nun ja”, wiederholte sie und errötete erneut. Ihre linke Hand tippte sich vorsichtig auf die Lippen, während sie mit der rechten weiter die schwarze Handtasche umklammert hielt. Jan glaubte in diesem Moment, dass sie tief in ihrer Seele ein ängstlicher Mensch war und empfand Mitleid mit ihr.
“Ihnen lief da so Speichel aus dem Mund, und sie haben laut geflucht.”
Auch ihr war das Gespräch sichtbar peinlich.
“Was?”
“Ja. Wir haben uns erst so nett unterhalten. Und als Sie dann so komisch geworden sind, da haben Sie dann lauter schlimme Dinge gesagt.”
Sie zögerte.
“Also, so Sachen wie...wie dass alles... alles scheiße ist und so.” Sie brach den Satz ab und schaute verschämt zu Boden.
“Ich kann das alles gar nicht wiederholen.”
“Oh Gott”, sagte er und war erschüttert.
“Das tut mir leid.”
“Ich weiß, dass Sie das nicht wollten. Sie sind ja so ein netter Mensch. Aber ich kenne das von meinem Mann. Das macht der Zucker. Das waren ja nicht Sie.” Ihre Miene hellte sie wieder auf, denn sie schien zu bemerken, dass weitere Zitate nun nicht mehr nötig waren.
“Na ja, und dann?”
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Er konnte immer noch nicht begreifen, dass ein entscheidender Abschnitt seines Lebens und Erlebens offenbar komplett an ihm vorbeigegangen war, dass er wohl -wenn er einen Moment darüber nachdachte- eine ganze Zeit lang völlig normal agiert, reagiert und sich unterhalten hatte, ohne dies bewusst wahrgenommen zu haben. Es konnte natürlich auch sein, dass die schwere Unterzuckerung seine Erinnerung einfach ausgelöscht hatte, wie mit Tipp-Ex übermalt; dann blieb jedoch die Frage, warum er -wenn er sich zuvor noch seiner selbst bewusst gewesen war- diese Unterzuckerung nicht bemerkt hatte. Er kam zu dem Schluss, dass es auch möglich sein musste, ohne Bewusstsein zu leben. Innerlich grinste er, als ihm der Gedanke kam, dass dies mindestens neunzig Prozent der gesamten Menschheit sowieso tat.
“Dann ging alles sehr schnell”, antwortete sie.
“Als wir in den Bahnhof eingefahren sind, haben die Sanitäter schon auf dem Bahnsteig gewartet. Die haben Sie dann nach draussen gebracht und mit der Trage in ihren Wagen gefahren.”
“Ich danke Ihnen noch einmal recht herzlich für Ihre Hilfe”, sagte er betont freundlich.
“Ohne Sie wäre das wohl alles noch viel schlimmer geworden.”
Sie lächelte schüchtern und nickte ihm zu.
“Das ist doch selbstverständlich. Aber achten Sie beim nächsten Mal darauf, dass Sie genug essen.” Auch Jan nickte. Er wusste, dass sie Recht hatte.
Dann verabschiedeten sie sich, und die ältere Dame fügte noch hinzu:
“Grüßen Sie Ihre Freundin von mir. Und sagen Sie ihr, dass sie besser auf Sie aufpassen soll.”
Mit einem Lächeln verschwand die Frau zwischen den anderen Menschen auf dem Bahnhofsvorplatz. Jan jedoch erschrak, denn er wusste sofort, dass er während des Gesprächs im Zug Monika als seine Freundin ausgegeben hatte, um sich anderen Leuten gegenüber nicht zugestehen zu müssen, dass er alleine war.
‘Das werde ich ganz bestimmt nicht tun’, dachte er und stellte sich vor, wie Monika auf diese Begebenheit reagiert hätte.
Dann brach er seine Gedanken ab und schaute etwas nervös umher.
Es war schrecklich.
Langsamen Schrittes, mit gesenktem Kopf und nun von niemandem mehr beachtet ging er in die große, hochgewölbte Bahnhofshalle; kleine Tränen kullerten ihm die Wangen hinab. Er fühlte sich schwach, zittrig, kaltschweißig, und zusätzlich fiel der riesige Druck von ihm ab, den er gespürt hatte, als er aufrecht und mutig einem Gespräch über das soeben Geschehene hatte führen müssen. Sein Leben schien ihm plötzlich wie ein einziges Lügengebäude, zum Scheitern verurteilt und von seinem Unterbewusstsein in Bahnen gelenkt, die er so niemals hätte wollen können.
Er weinte leise, wischte sich die Tränen mit den Ärmeln seiner Daunenjacke ab und kaufte sich drei Bier. Dann wartete er am Bahnsteig auf den Zug, der ihn dorthin zurückbringen würde, wo er eigentlich gar nicht sein wollte: nach Hause. Er hatte einen grausamen, lebensgefährlichen Zusammenbruch erlitten, hatte vermutlich Schwachsinn erzählt von einem tollen Studium, welches er führte und erfolgreich beenden würde, von einer Beziehung mit einem tollen Mädchen, das er liebte und mit dem er glücklich war und von einer Sicherheit, in die er sofort wieder zurückkehren würde, sobald er aus dem Rettungswagen ausgestiegen wäre.
Aus dem Rettungswagen?
Was hatte der schnurrbärtige Sanitäter eigentlich als Erstes gesagt, als Jan wieder aus der Herrschaft seines Unterbewusstseins aufgewacht war?
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“Na gut, Herr Jan, dann haben wir wohl alles.”
Was hatte das zu bedeuten?
Er trank einen tiefen Schluck aus der Dose, wischte sich den Schaum von den Lippen, so wie er sich eben noch die Tränen von den Wangen gewischt hatte. Herb knisterte das Bier seinen Rachen hinab, und ohne sofort betrunken zu sein, veränderte sich dennoch kaum merklich die Wahrnehmung von seiner inneren und äusseren Wirklichkeit.
Noch einmal fiel Druck von ihm ab.
Er hatte scheinbar Name, Adresse angegeben, sein persönliches Umfeld geschildert, dabei natürlich mehr oder minder gelogen; zumindest war er sich sicher, dass er nicht von seiner fast kompletten Hilf- und Haltlosigkeit, mit der er sein Leben führte, hätte reden können. Name und Adresse seines Hausarztes wird der Sanitäter ebenso gewusst haben wollen, einen kleinen Abriss von Jans Diabeteskarriere wohl auch; Krankenkasse, Freunde, Verwandte.
Als das erste Bier geleert und sein Hirn mit etwas mehr Egalität gefüllt war, rollte die Bahn ein, die ihn zurückbringen würde, und er wusste, dass das Gespräch mit dem Schnurrbärtigen sich eine ganze Weile hingezogen haben musste. Sein Körper kribbelte von der Ungewöhnlichkeit der Erkenntnisse, die sich in ihm auftaten wie ein Tor, durch das er blicken konnte oder wie eine Brücke, die hinüberführte in eine neue, andere Welt. Seine rechte Armbeuge schmerzte von der Nadel, mit der ihn sein Retter in das zurückgeholt hatte, was gemeinhin als Realität bezeichnet wurde, und sein Geist weitete sich hinein und zurück in das, was andere als reine Illusion abtaten.
Offenbar umfasste das menschliche Bewusstsein mehr als die Vorstellung, die sich die meisten Menschen davon machten. Denn wie sollte es anders möglich sein, dass er unterbewusst Dinge getan hatte, die andere Leute auch taten, gleichzeitig die harmonische Wirkweise aber eben gerade dieses Tuns ihrer eigenen Bewusstheit zuschrieben? Schließlich waren doch alle so stolz darauf, sich vom Rest des Universums dadurch zu unterscheiden, dass sie sich ihrer selbst bewusst waren.
Jan hatte sogar unterbewusst gelogen.
Für einen Diabetiker war es im Grunde genommen klar, dass er sich über das, was er tat, Gedanken machen musste. Sich seiner selbst bewusst zu sein, war für ihn lebensnotwendig. Er liefe ansonsten Gefahr zu sterben.. Nicht in irgendeiner fernen Zukunft, sondern in dem Moment, in dem er aufhörte, dies zu tun.
Jan stieg ein in den mittlerweile eingefahrenen Zug, setzte sich und öffnete die zweite Dose Bier. Genussvoll trank er und rauchte..."



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